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Serenadeßir die tote Mutter

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Im Bruchteil einer Sekunde konnte ich feststellen, daß die Badewanne leer war." Seit zwei Tagen war sie spurlos verschwunden, ohne Anzeichen, ohne Vorankündigung war sie aus ihrem täglichen Leben einfach weggetaucht. Sie, das ist die Mittsiebzigerin Anneke Weiss. Einen Sohn, Mitte dreißig, und einen verzweifelten Liebhaber läßt sie zurück. Beide befürchten Schlimmes und machen sich gemeinsam auf die Suche nach der Verschwundenen.

Kanm drei Jahre, ist £s her, daß der Filmemacher und Schriftsteller Leon de Winter als junger Shoo-ting-Star mit der witzigen und zugleich traurigen jüdischen Familiensaga „Supertex" mit „Hoffmanns Hunger", einem Boman aus dem Diplomatenmilieu, die Bestsellerlisten stürmte. Nun legt er wieder einen Roman vor: „Serenade". Der 1954 als Sohn jüdisch-orthodoxer Eltern in

Holland geborene De Winter hat zwei Lieblingsthemen: Judentum und Faschismus.

Auch in seinem neuen Buch greift er sie wieder auf. Aus der Sicht des Nachgeborenen kreuzt er die Koordinaten der Geschichte mit jenen der Gegenwart und läßt sie in Ex-Jugo-, slawien zu einem packenden Gegenwartsroman zusammenkommen. Ohne Pathos führt er sich und dem Leser die Tragödie von r^rieg und Verfolgung vor. Ein sehr jüdischer Witz liefert den Grundton, mit dem de Winter seine Geschichte erzählt.

Der Ich- Erzähler, der in der Werbebranche gut verdienende Komponist Bennie Weiss, weiß von der Vergangenheit seiner Mutter nur, daß sie ihre Familie im Zweiten Weltkrieg verloren hat, näheres hat sie stets verschwiegen. Zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes begann Anke Weiss ihren Sohn mit plötzlichlichen Reisen zu überraschen. Ohne Vorankündigung rief sie ihn regelmäßig sofort nach ihrer Ankunft aus irgendeiner europäischen Stadt an. Doch diesmal ist die Mutter einfach weg und sein Telefon bleibt stumm.

Was bleibt dem Sohn da anderes übrig, als in die Rolle eines Detektivs zu schlüpfen? In der Post seiner Mutter findet er endlich einen zielführenden Hinweis, die Rechnung eines Reisebüros für einen Flug nach Split in Kroatien. Bennie; der ihre Gewohnheiten genau kennt, glaubt zu wissen, daß seine Mutter niemals in ein Kriegsgebiet reisen würde, er weiß aber auch, daß sie täglich die Nachrichten verfolgt, und er weiß, was ihr bislang verschwiegen worden ist, daß sie an Krebs leidet. Hat sie viel-leicht gar davon erfahren, ist sie aus Verzweiflung ins Kriegsgebiet gefahren?

Die Antwort findet er auf einem Güterbahnhof in Split. Dort wartet seine Mutter auf eine Ladung Waffen. Ein Interview mit einer bosnischen Frau in den Nachrichten hat sie alarmiert. Nach 50 Jahren wollte sie Widerstand leisten, diesmal gegen einen neuen Faschismus, doch sie ist einem Schwindler in die Hände gefallen. In den holländischen Nachrichten hatte Anneke Weiss ein Interview mit einer bosnischen Frau gehört, die von ihrer Bettung durch den Vater erzählte. Er hatte vor den Serben verrückt gespielt, damit sie entkommen konnte.

Vom Psychoanalytiker seiner Mutter erfährt Bennie nach ihrem Tod, daß sie auf ähnliche Weise wie jene bosnische Frau von ihrem Bruder vor den Nationalsozialisten gerettet worden war.

„Serenade" ist zwar eine berührende Mutter-Sohn-Geschichte, doch andererseits hinterfragt der Autor, vielleicht unbewußt, die Medienberichterstattung über den Krieg in Ex-Jugoslawien, die es sich oft sehr leicht gemacht hat. De Winter führt vor, daß es inmitten der Kriegswirren gar nicht mehr möglich war, zu zeigen, wo der Faschismus begann und wo er aufhörte. Denn Täter und Opfer sind auf beiden Seiten. Was Peter Handke in seinem Essay „Gerechtigkeit für Serbien" versuchthat, erzähltLeon de Winter in seinem Roman, vielleicht ohne es zu wollen, einfach mit der Naivität des unbeteiligten Reobachters. Eine Rolle, die den Kriegsberichterstattern größtenteils fremd gewesen ist.

Er demonstriert, daß es indessen ein Verbrechen in diesem Jahrhundert gegeben hat, von dem sich die Opfer nie mehr erholen konnten, nämlich von jenem der Nazis.

Wenige Wochen nach ihrer Rückkehr erliegt Anneke Weiss ihrer Krankheit. Und Bennie? Er bleibt allein zurück, verabschiedet sich von der Werbebranche und schreibt ein Stück, eine „Serenade" für seine Mutter: „Mit Stift und Klavier bewaffnet, werde ich in ihrem Namen ... zu Felde ziehen".

SERENADE

Roman.

Von Leon de Winter. Diogenes Verlag, Zürich 1996. 168 Seiten, geb., öS 217,-

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