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Seuchen verandern Gefuge und Bewufitsein der Gesellschaft

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Wer hatte noch vor zehn Jahren gedacht, daB im Zeitalter des rasanten medizinischen Fort-schritts, der Impfungen und Praven-tionen, wieder das Schreckgespenst einer Seuche erscheint? Anfangs wollte man es nicht glauben, heute ist die Im-munschwache Aids ein Seuche, die weltweit viele Millionen Menschen bedroht und der die Wissenschaft immer noch hilflos gegeniiber steht.

Unter dem EinfluB einer Seuche verandertsich das Verhalten der Menschen. Das ubermittelt uns die Ge-schichtsschreibung, und das kann man heute wieder erleben. Die erste aus-fiihrliche Beschreibung einer Seuche stammt vom griechischen Geschichts-schreiber Thukydides, um 436 vor Christus.

Er beschreibt die Belagerung Athens durch die Spartaner und den Aus-bruch einer mordenden Seuche, der auch Perikles zum Opfer fiel. „Es diirf-te sich nicht um die Pest, sondern um Fleckfieber gehandelt haben", stellt dazu Wiener Universitatsprofessor Karl Hermann Spitzy fest, der sich mit Infektionskrankheiten und deren Bekampfung, aber auch mit deren so-zio-kulturellen Auswirkungen befaBt hat. „Bei der Bevolkerung machten

sich Hoffnungs-, Mut- und Sittenlo-sigkeit breit; die Furcht vor den Got-tern, die Gesetze der Menschen, nichts konnte die Menschen im Zaum halten schreibt Thukydides. Athen in seiner hbchsten Bliite erlag der Seuche.

Die Pest wurde schon zur Zeit Ju-stinians 531 in Bom als der „schwarze Tod" beschrieben. Vom 14. bis zum 18. Jahrhundert gab es immer wieder Ausbriiche in ganz Europa. Noch 1897 starben in Wien daran ein Laborant, ein Pfleger und der behandelnde Arzt.

Heute zeugen in vielen Orten die Pestsaulen von den damaligen Ang-sten und Gebeten der Bevolkerung um gottliche Hilfe. Zahlreiche Beispiele aus der Bibel, aus Geschichten und Le-genden lassen die Pest als Strafgericht eines unergriindlichen Gottes, als ein Menetekel von Schuld und Siihne er-scheinen. Gebete, Bittprozessionen sollen helfen, wo der Mensch mit seiner Wissenschaft hilflos ist.

Kulturelle Anpassung und Errun-genschaften konnen durch Seuchen rasch verloren gehen, wie es etwa der Untergang der hohen Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent zeigt. „Hier fiihrte auch der unterschiedli-che Genbestand der Ureinwohner und der Eroberer zur Katastrophe. Nie hat-ten die zahlenmaBig weit unterlege-nen Europaer Millionenreiche er-

obern konnen, waren nicht bis zu 90 Prozent der Urbewohner an Seuchen, gegen die sie genetisch nicht geschiitzt waren, zugrunde gegangen", sieht Spitzy eine kulturverandernde Aus-wirkung von Seuchen.

Wer fragt, wie sich die Menschen in ihrer Angst beim Auftreten von Seuchen verhalten, der lese den Roman

„La Peste" von Camus, der 1957 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Er beschreibt die Reaktionen der Menschen in einer von der Pest heim-gesuchten, abgeriegelten Stadt: Ver-zweiflung, Isolation, Egoismus, - Op-ferwille, Hilfsbereitschaft, die Not-Wendigkeit der Solidaritat in der ge-meinsamen Not.

Die meisten Seuchen sind heute be-herrschbar, und doch sind die Folgen des Auftretens neuer Seuchen fur die Menschen immer wieder dieselben. Die Krankheit fiihrt zur Ausgliede-rung aus der Gemeinschaft, zur Isolie-rung, zur Achtung. Das dunkle Gefiihl von Schuld und Siihne ist, trotz aller Aufklarung, unvermeidbar.

Glaube und Aberglaube fiihren zu irrationalen SchluBfolgerungen und Verurteilungen. „Am Beispiel von Aids, wogegen es noch keine erfolg-reiche Therapie gibt, lassen sich sehr ahnliche Veranderungen des Kultur-bewuBtseins der Menschen erkennen, wie beim Ausbruch der Pest, der Cholera oder der Lues. Die Verzweiflung der Partner und Familien ist ungleich tragischer als beim Auftreten von un-heilbarem Krebs", weiB Spitzy.

Die Stigmatisierung des Aidskran-ken ist trotz aller Aufklarung nach wie vor ziemlich groB, wohl auch deshalb, weil die Krankheit mit Sexualitat zu-

sammenhangt. Trotz zehnjahriger Bemuhungen sei es bis heute nicht ge-lungen, Aids zu entstigmatisieren, ja es wurden sogar die helfenden Hande mit dem Stigma behaftet, kennzeich-net die Verhaltensweise der Soziologe Girtler („Das Stigma des Infizier-ten"). In der „Verwissenschaftli-chung" sieht er den einzigen Weg aus der Stigmatisierung. Allerdings durf-ten damit nicht iiberzogene Hoffnun-gen fur einen Sieg der Wissenschaft iiber Aids geweckt werden.

Ob die Aids-Epidemie, wie seiner-zeit die Pest, von selbst ablaufen wird, ist mehr als zweifelhaft, ob bald eine wirksame Therapie gefunden wird, auch. Die Erfolgsmeldungen uber neue Mittel werden dagegen kaum zuriickgehen.

Aber schlieBlich ist Aids nicht nur ein pharmakologisches Problem, sondern ein zwischenmenschliches. An-satze zu einer Annaherung von Mensch zu Mensch sind da, aber der Graben zwischen den Schuldzuwei-sern, Gleichgiiltigen, Fatalisten und Profitierern einerseits und den PflichtbewuBten, Opferwilligen, Pfle-genden andererseits ist noch weit of-fen. Hygiene, nicht nur auBere, sondern innere, ist gefragt!

Die Autorin ist

freie Journalislin

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