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Sex ist Trumpf

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Die jüngste Frankfurter Buchmesse hat erneut den Beweis erbracht, daß die Bundesrepublik der größte Buchproduzent Europas — wenn nicht der Welt ist. Die Frage ist nur, ob der „Sprachspiegel“ auch heute noch zur gleichen Feststellung wie im Oktober 1957 (oder eher zu noch unerfreulichen Ergebnissen bei einer Erhebung) kommen würde: damals berichtete er, daß nur 15 Prozent im ganzen Land über eine kleine Bücherei verfügen, 44 Prozent kein Buch lesen und 47 Prozent kein eigenes Buch besitzen. Dafür lesen 90 Prozent eifrig die tägliche Presse und 80 Prozent regelmäßig Illustrierte und Comics. Im Vergleich zu diesem modernen „Spiegel“ (damit ist nicht die bekannte Zeitschrift gemeint, sondern die verschiedenen Illustrierten) nennt Theo Koch das „Spieglein an der Wand“ im Märchen ein harmloses Instrument. Die heutigen „Spieglein“ verlocken zur aufdringlichen Überflutung mit Spiegelbildern und anziehenden (zumeist ausgezogenen) Vorbildern.

In diese Hefte starren die Teenager, zu den verführerisch aufgemachten Modefiguren blicken sie auf wie verzaubert. Teenager und Twen wissen heute, das heißt: sie glauben es zu wissen, daß man nur durch Publicity auf schnellstem Wege in der Welt es zu etwas bringt und auf jeden Fall bekannt wird. Das sicherste Mittel zu diesem öffentlichen Glanz ist heute die Sexualität, das Sex-Appeal: von den sorgsam gelackten Zehen über die hoch hinaufgerutschten Mini- röcklein (Röcke kann man sie nicht mehr nennen!) bis zum umlockten Antlitz muß alles „sexy“ sein.

Höhepunkt der Verwirrung

Wo sind die Zeiten, da Goethe noch sagen konnte: Willst du wissen, was sich ziemt, frag’ nur bei edlen Frauen an! Seither hat sich vieles verändert. Jedoch nicht nur bei den Frauen. Damals fragte Gretchen ihren Liebespar tner noch: „Wie hälfst du’s mit der Religion?“ Und ging dann nach ihrem einbekannten Fehltritt reuig zur heiligen Jungfrau beten. Heute? Die Fortschrittlicheren haben ihre Behelfe selber mit; die Revision der Taschen von Schülerinnen einer landwirtschaftlichen Berufsschule (zwischen 15 und 16 Jahren) hatte außer einer erklecklichen Anzahl von Schundromanen bei 33 Prozent Verhütungsmittel ergeben, wie H. Hunger berichtet. Der „Frühverkehr der Jugendlichen“ werde „allenthalben üblich“, meint Hans-Jochen Gamm und führt zur Erhärtung dieser Feststellung als verbürgtes, symptomatisches Ereignis an: Jugendliche der neunten Klasse einer norddeutschen Volksschule bereiten eine Klassenreise vor. Bei der Durchsicht des Gepäcks ihrer Tochter findet eine Mutter darin Präservative und auf ihre entsetzte Frage antwortet die Tochter in ruhig-sachlichem Ton: „Ach, weißt du, die Jungens vergessen die Dinger so oft, da ist es ja besser, wir haben sie bei uns.“ Sage nun niemand, bei uns in Österreich sei es nicht oder noch nicht so weit. Hoffentlich stimmt’s! Es stimmt, denn andere Länder, andere Sitten! Nach Lo Duca soll Österreich alle Rekorde schlagen, weil wir die für „Mädchenmütter“ günstigste Sozialgesetzgebung hätten: 130 uneheliche Geburten auf 1000.

Der Höhepunkt der Verwirrung ist jedoch erreicht, weil Männer und Frauen, die es besser wissen müßten, diese Ab- und Irrwege hinterher nicht nur verstehend-verzeihend zur Kenntnis nehmen, sondern zu bestätigen und zu berechtigen suchen. Wahrhaftig, die babylonische Sprachverwirrung braucht gar nicht einen Zerfall in verschiedene Sprachen zu bedeuten. Man kann in der gleichen Sprache mit einem Wort ganz und gar Verschiedenes bezeichnen und meinen. Das am meisten mißbrauchte und verunstaltete Wort heißt: lieben und Liebe. Wir dürfen es daher den Journalisten nicht übelnehmen, wenn sie diese Dinge am ehesten viel zu leicht nehmen. So, wenn sich etwa die Gattin eines Marineoffiziers unterfängt, den Mädchen (die „mit dem Lippenstift noch vor der Rechtschreibung umgehen können“) ohne religiöse oder sonstige sittliche Bindung durch offenherzigste „moderne Aufklärung“ zur Selbstbeherrschung zu verhelfen. Oder wenn ein Filmkritiker (R. Stern) glaubt, „für das Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs“ ... keine wirklich stichhaltigen vernunftsgemäßen Gründe finden zu können. Das kann den nicht mehr wundern, der vernehmen muß, daß auch Pädagogikprofessoren die Meinung vertreten: Was man nicht leben kann, könne man nicht lehren. Auf solche Ansichten gab prompt Kardinal Suenens als der bessere und tiefere Kenner dieser Lebens- und Liebes- zusammenhänge die entsprechende Antwort: „Wenn man nicht lebt, wie man denkt, dann denkt man nur zu leicht, wie man lebt.“

Sexualität und Religion

Der eigentliche Wandel in dieser Jugendnot vollzieht sich keineswegs auf dem Gebiet der Aufklärungsliteratur, wie allmählich allgemein erkannt wird. Von den vielen Stimmen und Ermahnungen zu tieferen Einsichten können wir hier nur zwei bringen. Prof. W. Kretschmer faßt seine Ausführungen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 12. Jänner 1966 über „Die umstrittene Aufklärung“ in die Worte zusammen: „Sie fördert eine egoistische, lieblose Haltung, sie erleichtert das Geschlechtsleben, ohne es innerlich zu vertiefen.“

In einem ausgezeichneten Beitrag erweist Prof. Schrey in „Christ und Welt“ vom 4. März 1966 den „Sexualismus als Ersatzreligion“: sie sei das „unterschwellig Verbindende in einer Welt allgemeiner Lieblosigkeit“. Sie ist das Evangelium des modernen Menschen, und durch sie will er seine Einsamkeit loswerden und aus der Entfremdung der Gesellschaft finden. Die Verkünder dieses Evangeliums sind die Massenkommunikationsmittel; das Pin-up-Girl im Spind der Kasernen und die Photos der Filmidole sind die modernen Heiligen. In den Mißwahlen haben wir die neuen Kultformen vor uns und in den sentimentalen Schnulzen die Kirchenlieder. Nach dem bekannten amerikanischen Persönlichkeitsforscher

G. W. Allport haben Sexualität und Religion die Rollen getauscht: Während Schriftsteller früher kaum zwei Seiten über die Rolle des Geschlechts bei der Entstehung der religiösen Führung aufwendeten, schreiben heute die Psychologen umgekehrt dicke Bücher über das Sexuelle und „erröten aber und verstummen, wenn religiöse Erlebnisse in Betracht kommen“.

Besinnung und Wendung

An allen Orten beginnen sich verantwortungsbewußte Männer und Frauen zu rühren. Das Deutsche Fernsehen strahlte in seinem I. Programm eine Sendung gegen „Die Sexualisierung der Öffentlichkeit“ aus. In Österreich nahm als este Illustrierte die „Neue Illustrierte Wochenschau“ (Nr. 31) in maßvoller Weise gegen die aufdringliche Überfütterung mit Aufklärungsheftchen sogar schon der Kleinsten Stellung. Im Bistum Münster wurde am 18. Juni 1966 ein „Arbeitskreis für sexualpädagogische Fragen“ gegründet und am 5. Juli ein „Arbeitsausschuß für Geschlechtserziehung in Bayern“.

Am erfreulichsten ist die Initiative in der Ostzone. Rolf Borrmann legt ein Buch zu dem Thema „Jugend und Liebe“ vor, das sich hier im Westen so mancher (allzu modernistische Christ, Gewerkschaftsfunktionär oder überhaupt Vertreter der Linken) gründlich durchstudieren sollte.

Hier liegen überaus wertvolle Gemeinsamkeiten vor, auf denen viel eher Brücken als auf der höchsten philosophisch-weltanschaulichen Ebene gebaut werden könnten. Ein besseres Wort zum Schluß könnte kaum gefunden werden als dieses (S. 47): „Erst wenn die Sexualität eingebettet ist in das Gesamtgefüge menschlichen Denkens und Handelns und frei von Uber- und Überschätzung eine richtige Wertung erfährt, kann die Liebe zu einem Teil des Lebens werden, der nicht alles verdrängt und dessen man sich nicht zu schämen braucht.“

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