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Sex und Protest im Theater

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Die Broadway-Saison hat nur langsam begonnen, langsam und enttäuschend. Es gibt anscheinend weniger „Angels“, die Shows finanzieren, daher weniger Premieren als in den Vorjahren... und vor allem weniger Autoren, die gutes Bühnenmaterial liefern können. Bedeutende Werke längst verklungener Spielzeiten, sichere, alte Sensationserfolge wie „Our Town“ von Thornton Wilder oder „The Front Page“ von Ben Hecht werden wieder gebracht. „Off-Broadway“ besteht heute aus Nacktheit oder Homosexualität, und kaum eines dieser Stücke dürfte ein wirkliches Theaterpublikum interessieren.

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Die Broadway-Saison hat nur langsam begonnen, langsam und enttäuschend. Es gibt anscheinend weniger „Angels“, die Shows finanzieren, daher weniger Premieren als in den Vorjahren... und vor allem weniger Autoren, die gutes Bühnenmaterial liefern können. Bedeutende Werke längst verklungener Spielzeiten, sichere, alte Sensationserfolge wie „Our Town“ von Thornton Wilder oder „The Front Page“ von Ben Hecht werden wieder gebracht. „Off-Broadway“ besteht heute aus Nacktheit oder Homosexualität, und kaum eines dieser Stücke dürfte ein wirkliches Theaterpublikum interessieren.

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Es hat bisher einige wenige Stücke gegeben, die es wert sind, erwähnt zu werden: Leonard Gershe nennt sein Stück „Butterflies are free“ zwar eine Komödie, doch gibt es eher Stoff für eine Tragödie. Ein junger, blindgeborener, (gutaussehender Mann hat sich von seiner treusorgenden, energischen Mutter losgesagt und ist vom bequemen Zuhause in eine (von Richard Seger sehr begabt entworfene) Dachkammer gezogen. Die Nebenkammer bewohnt eine reizvolle, junge Dame, das Unvermeidliche geschieht — bis die Mutter erscheint und ihren Sohn zurückhaben will. Das Mädchen verschwindet vorübergehend mit einem Hippie, kommt aber bald wieder zurück. Weil der Dialog ungemein witzig ist, weil vor allem die Schauspieler dank dem Regisseur Müton Katselas ihre Pointen so richtig ansetzen, wird aus der tragischen Handlung fast eine Komödie. Weil alle Beteiligten so hervorragend sind, erlebt der Zuschauer einen interessanten Theaterabend. Noch steht der Name Blythe Danner in sehr kleinen Buchstaben im Programmheft, aber bald wird er in großer Leuchtschrift auf der Marquise des Theaters stehen. Denn trotz der großen schauspieleririschen Leistungen ihres Partners Keir Dullea und der bewundernswert virtuosen Eileen Heckort ist sie der Blickfang des Stückes. Sie ist graziös, ihr Spiel und ihre Sprache sind erstklassig, und sie wirkt in ihrer Rolle durchaus glaubwürdig.

Off-Broadway, im Lafayette Street Public Theatre, hat Joseph Papp eine Gruppe junger Leute von Texas nach New York gebracht, die erst als ein anarchistisches Chaos wirken — aber von einer so eisernen, Reigie zusammengehalten, daß das Publikum davon hypnotisiert wird. Auch die Zuschauer tanzen und singen, lassen sich umgruppieren und warten im Foyer auf ein Trompetensignal als Zeichen, daß sie den Zuschauerraum betreten dürfen. Sie lassen sich am Ende gehorsam herausführen — das Spiel beginnt und .endet auf den Treppen. Bühne und Ausstattung gibt es nicht, dafür Diapositive und Filme, die die Wände des Theaters in einen Sportplatz mit harten Bänken umbauen. Junge Menschen — in andauernder Bewegung (daher schwer' zu zählen) spielen dort nicht etwa großes Theater — sondern disziplinierten Protest gegen eines der Grundübel der Menschheit: die Dummheit. Es zeigt die Grundlage für Chauvinismus, Mißbräuche und Mißverständnisse. „Stomp“ scheint revolutionär, weil es sich gegen das Guckkastentheater und in die Arena stellt und weil es Ausdruck eines Teiles unserer Zeit ist.

In Wahrheit ist „Stomp“ aber eher evolutionär wie die heutige Technik oder die Atomforschung. Es kämpft gegen Vorurteile mit überlauter Musik — aber auch mit gelegentlichem Harfen- oder Flötenspiel. Mit viel Vulgarität, aber einiger Lyrik von begabten jungen Menschen zwischen 18 und 21 Jahren, deren Musizieren, Tanzen, Singen und Sprechen sich von einem Amateurniveau sehr wohl unterscheidet und fortentwickelt hat. Die Darsteller — hemmungslos begeistert ihrer Arbeit verschrieben — trafen sich alle an der Universität von Texas in Austin. Der Leiter der Truppe, Doug Dyer, 26jährig, lehrte sie erst, was die wenigsten vom Theater wußten. Kein Programmheft nennt ihre Namen — denn Programmhefte gibt es keime... vielleicht ist es der Beginn einer Entwicklung — hoffent-

lich mehr als nur eine vorübergehende Modeerscheinung... Eine Prise amerikanischer Geschichte: „Indianer“ ist Americana in mehr als einem Sinne. Weil hier ein Mann namens William Cody (1868) die Versorgung der Arbeiter übernahm, welche die berühmte transkontinentale Eisenbahn nach dem Westen legen sollten. Da Lebensmittel knapp waren, fing er an, Buffalos zu erlegen. William Cody, Buffalo Bill, hatte mit seinen berittenen Metzgern bald ein Drittel der Tiere geschlachtet und den dortigen Indianern dadurch ihr gewohntes Leben unmögLich gemacht. Sie gingen auf den Kriegspfad und verloren. Wie wir aus unseren Kinderbüchern wissen, standen den Weißen ja Feuerwaffen und Feuerwasser zur Verfügung. Resultat: Ein Blutbad, 1876, worin der Held General Custer fiel — und eine weitere Schlacht, nach der sich Häuptling Sitting Bull ergibt. Buffalo Bill organisiert einen Wildwest-Zirkus und spielt sich selbst

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Der Autor Arthur Kopit versucht, die Bühne zum Tribunal zu machen, indem er das Publiku(m anklagt, an der Aurottumg der Indianer mitschuldig zu sein. (Die Untertöne klingen von selbst an: Vietnam, Negerghettos, Slums.) Kopits Palette ist reich, im thematischen aber auch im bildlichen. Sein Buffalo Bill krankt an einem Schuldgefühl — wird zum Anwalt der Indianer — und wenn er nachts nicht schlafen kann, sieht er sich umringt von Gespenstern der ermordeten Buffalos und Indianer...

Es ist ein turbulentes Stück, das pausenlos gespielt wird und dem der Regisseur Gene Frankel eine so erregend-großartige Inszenierung gab, wie sie zur Zeit in New York sonst nicht zu finden ist. Die Ausstattung stammt von Oliwer Smith, und vom Beleuchter wirksam unterstützt, alrbeitet der Regisseur mit psychedelischen und kinetischen Effekten.

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Zum erstenmal in dieser Saison hat man in Kopits „Indianer“ Volltolut-theater mit einem großen Thema in einer großen Schau. Im übrigen ist der Wettlauf um die Broadwaybühnen, der um diese Jahreszeit gewöhnlich auf vollen Touren läuft, abgeflaut — die Werbetrommeln, die vor Beginn einer neuen Theatersaison geschlagen werden, klingen diesmal sehr gedämpft. Bisher warteten Produzenten nur auf das Ableben einer Show, rnn mit neuem Mut und frischem Kredit einzuziehen. Zur Zeit sind Bühnen zu haben. Die Gründe dafür sind verschieden — hauptsächlich der, daß die ,Angels“ von Wall Street (Theaterenthusiasten, die die Stücke der Produzenten zu finanzieren pflegen) ausgeblieben sind. Sinkende Börsenkurse verursachen das Beben der Bretter, die die Welt bedeuten — eigentlich aber doch nur das Spielfeld einer kleinen Gruppe von Mäzenen sind, die davon träumen, vom nächsten Musical so feste Tantiemen zu ergattern wie „My Fair Lady“ und jede Komödie für einige hunderttausend Dollar an das szenario-hungrige Hollywood zu verkaufen.

Worte, die bisher am Theater tabu waren: Rezession, Konjunkturrückgang, Depression ... werden ausgesprochen. Aber halten die „Angels“ nur wegen der fallenden Börse zurück? Oder .sehen sie als Finanzleute etwas klarer, was an dem nicht immer süperben, aber doch weltberühmten Broadway falsch ist? Wie die von Jahr zu Jahr steigenden

Ausstattungskosten — ein Stück mit fünf bis sechs Schauspielern und ein bis zwei Kulissen kostet heute durchschnittlich 150.000 Dollar, um es auf die Bühne zu bringen. Und wie oft sind in der letzten Saison diese 150.000 Dollar ins Nichts gefallen! Auch meinen die Broadway-Produzenten, sie hätten vom „Off-Broadway“ einen Dolchstoß in den Rücken bekommen. In den Zimmer-Keller-Garage-Theatern kann man heute noch Stücke zu erschwinglichen Preisen herausbringen, und oft sind sie in einem solideren Verhältnis zwischen Ausgaben und eventuell möglichen Einnahmen, und auch die Reihen des Publikums sich da etwas gelichtet haben. Für ein Ehepaar, das im Vorort lebt, für die Kinder einen Babysitter braucht und mit Abendessen 40 bis 50 Dollar für so einen Abend bezahlen muß ... sind die Femseh-commeroials nicht mehr so abschreckend, und man bleibt zu Hause.

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Früher wußte man am Broadway so ungefähr um die Mixtur, die zum Erfolg führte: Jetzt ist man unsicher und schielt auf die Kleintheater, um da die Norm zu finden, die ein Standard entwickelt. Es war das Rock-Hippie-Musical „Hair“, das sie alle in Verwirrung brachte. Dieser Welt-srfolg begann an einem damals leuen, kleinen Theater — weit, weit weg vom Broadway. Argwöhnisch ichnuppert man nun danach, ob ein inderes Kleintheater mit einer ähn-ichen Sensation aufwarten kann. Jnsicherheiten, was man bieten, wo man neue Stücke finden kann! Steinende Kosten und Schwierigkeiten ier Finanzierung sind Faktoren, die cein gutes Omen für die neue Saison >ieten. Doch bleibt die Hoffnung immer bestehen, daß die Pessimisten ron Wall Street am Broadway den kürzeren ziehen. Trudy Goth

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