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Sexuelle Heimatlosigkeit und Lustlosigkeit

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Nach 30 Jahren sexueller Revolution leben wir heute in einer sexualisierten Gesellschaft -der alltägliche Umgang miteinander nimmt jedoch ab.

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Nach 30 Jahren sexueller Revolution leben wir heute in einer sexualisierten Gesellschaft -der alltägliche Umgang miteinander nimmt jedoch ab.

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Ein paradoxes Phänomen: Lust verlangt nach Dauer und nach Luststeigerung. Dauert ein 1 „ustzustand aber dann tatsächlich länger an, wird die Lust schal. Als einen der auffälligsten sexuellen Trends am Ende unseres Jahrtausends, das. mit früheren sexuellen Verboten gebrochen hat, nennen Sexualwissenschafter die „neue Lustlosigkeit”.

Nach 30 Jahren sexueller Revolution - die vielbeschworenen 68er Jahre haben eine Lawine der sexuellen Befreiung losgetreten - leben wir heute in einer sexualisierten Gesellschaft mit entsexualisierten Beziehungen.

„Trotz inszenierter Erotik liegen Techno-Jugendliche mit immer schärferem und aufreizenderem Outfit am Ende zwar kreuz und quer durcheinander, froh, nicht allein zu sein, - um Sex geht es dabei aber nur selten.” Das schreibt der Hamburger Psychoanalytiker Gunter Schmid. Seine Beobachtungen decken sich mit zahlreichen, aufwendigen wissenschaftlichen Studien. Der Tenor lautet allgemein: In der gesamten industrialisierten Welt schwimmen wir zwar in einer Flut allerheftigster Sexualreize, der alltägliche Umgang miteinander aber nimmt ab.

Übereinstimmend stellen Sexualwissenschafter fest, daß das Sexualleben zwischen Männern und Frauen karger wird - und zwar innerhalb wie außerhalb der Ehe. Sexuelle Kontakte, die Anzahl der Sexualpartner - all das gehe zurück. Lediglich die Masturbation und Formen des anonymen Sex am Telefon beziehungsweise des Cybersex (also Sex per Computer) würden häufiger praktiziert werden.

Von einer „neuen Lustlosigkeit” ist viel die Bede, als Schlagwort in diversen Medien, aber auch als Problem in Sexualberatungsstellen.

Einen Hauptschuldigen hat man auch schon gefunden: den Orgasmuszwang (so nannte der Wiener Psychoanalytiker Leupold-Löwenthal den medial verbreiteten Druck zur ständigen Luststeigerung). Zwang führt bekanntlich häufig zu Verweigerung, und der Orgasmuszwang bewirkt, daß Männer und Frauen sich ihm durch die „neue Lustlosigkeit” zu entziehen versuchen. Die „neue Lustlosigkeit” ist so eine Mischung aus Bevolte und Kapitulation, jedenfalls eine Beaktion auf den Erlebnisimperativ. „Wir dürfen nicht mehr erleben, wir müssen erleben - und wir müssen ganz toll erleben, und da ist es das Beste, man läßt es gleich bleiben”, so beschreibt die Berliner Psychoanalytikerin Lilli Gast das Dilemma.

Was dagegen tun? „Yellow press einstellen und Privatkanäle schließen - dieses Bezept ist zu simpel und übersieht die komplexen Wechselwirkungen zwischen Medien und Me-diennützern”, gibt Lilli Gast zu bedenken und warnt vor zu groben Vereinfachungen.

Rastlose Suche

Der allen Trends äußerst skeptisch gegenüberstehende Zürcher Psychoanalytiker Peter Schneider bezweifelt allerdings, daß es so etwas wie eine „neue Lustlosigkeit” überhaupt gibt. Es sei nicht eine beschriebene, sondern bestenfalls eine herbeigeschriebene Mode. Er beobachte zwar schon das Phänomen der Lustlosigkeit, aber es sei kein zeitspezifisches Phänomen. „Ständig neue Lust und neue Lustspannung produzieren zu müssen -das ist ein Problem des Sexuellen schlechthin” - so Peter Schneider. Er räumt allerdings ein, daß sich dieses Problem in Zeiten größerer Permissi-vität (Freizügigkeit) verstärke. Schon Freud hatte darauf hingewiesen, daß Lustlosigkeit ein Problem der ausgehenden römischen Kultur gewesen ist.

Hatte Casanova recht mit seiner Behauptung, daß Erotik zu drei Vierteln aus Neugier besteht? Bezahlen wir den mühevollen Weg zur Gleichberechtigung tt zumindest vorü berge hend - mit einem Verlust von sexuellem Interesse? ”

Lustlosigkeit unter den Männern führt die Amsterdamer Soziologin

Anja Meulenbelt - wenigstens teilweise - darauf zurück, daß sich Männer von sexuell sehr selbstbewußten Frauen überfordert fühlen. „Viele Männer hatten Träume von freieren, lustbetonteren Frauen. Aber sie haben dabei eines übersehen: daß Phantasie und Realität nicht das gleiche sind. In einer Phantasie hat man die Kontrolle, in der Realität aber nicht. Und wenn nun Frauen kommen und sagen, ich möchte das oder das, dann geht vielen Männern aus Angst oder Unsicherheit die Lust aus.”

Daß sexuell sehr selbstbewußte Frauen für viele Männer ein Problem sind, diese Behauptung läßt Peter Schneider hingegen nur sehr bedingt gelten. „Manche Männer erregt gerade das Phantasma der starken Frau.” Die ganze Diskussion geht - nach Peter Schneider-von einer schiefen Voraussetzung aus: nämlich der, daß jeder mit jedem könne, daß Sexualität sozusagen ein demokratisches Unterfangen sei. Die Erfahrung aber lehrt, daß sexuelle Anziehung von individuell sehr spezifischen Faktoren abhängt. Was auf den einen/die eine erregend wirkt, läßt den anderen/die andere kalt.

Wer gegen den Orgasmuszwang und Erlebnisimperativ nicht mit Lustlosigkeit revoltieren oder kapitulieren will, versucht es nicht selten mit der rastlosen Suche nach Neuem. Und zu diesem Neuen gehörte - zumindest noch in den achtziger Jahren - die Bi-

Sexualität, die inzwischen von vielen Forschern als Trend der neunziger Jahre bezeichnet wird.

„Bisexuell, die Verwirrung der Geschlechter” titelte das deutsche Wochenmagazin „Der Spiegel” vor gut einem Jahr. „Nach den Schwulen und Lesben kämpfen jetzt Bisexuelle um gesellschaftliche Anerkennung - mit Erfolg” - heißt es ebenda. Als Beispiel für diesen Trend wird etwa der US-Erotik-Thriller „Basic Instinct” angeführt. Immerhin treibt es die Haupt darstellerin, Sharon Stone, wechselweise mit Mann und Mädchen.

Ein weiteres Indiz für die Tendenz zur Bisexualität sehen manche Forscher in androgynen Models ä la Kate Moss. Diese wirken, so die Argumentation, auf Schwule wie Lesben gleichermaßen erotisierend. In letzter

Zeit versuchen

Forscher verstärkt eine exakte Definition von Bisexualiät zu finden. Ist es nur, wie manche sagen, eine gesellschaftliche oder kulturelle Lebensform? Bleiben Menschen -trotz ihres wechselhaften Trieblebens - entweder Homo- oder Heterosexuelle? Oder gibt es doch so etwas wie echte Bisexuelle?

Anja Meulenbelt etwa zählt sich selbst zu den bisexuell veranlagten Menschen. „Aber wenn man so monogam veranlagt ist wie ich, hat man auch nicht so viel davon. Ich liebe immer nur eine Person, das kann ein Mann sein, das kann eine Frau sein.”

Den Ursprung des großen sexuellen Durcheinanders hatte schon Griechenlands Meisterdenker Piaton (427 bis 347 v. Chr.) aufzudecken versucht. Ursprünglich seien die Menschen in sich vollkommene kugelförmige Wesen gewesen, nahm er an. Die Mehrheit dieser Kugelwesen hätte eine mannweibliche Gestalt gehabt. Einige von ihnen seien als Doppelweiber oder Doppelmänner durchs Land gewandelt - so Piaton. Doch diese vollkommenen Wesen hätten den Neid der Götter erregt, und sie hätten daraufhin diese urigen Gestalten in zwei Hälften geteilt. Seither seien die Sterblichen ruhelos auf der Suche nach ihrem abgespaltenen Zwilling. So raunt Piatons Erzählung „Symposion” von einer androgynen, also mannweiblichen Uranlage des Menschen und rechtfertigt gleichzeitig auch die Homosexualität.

Bisex-Welle

Auch Sigmund Freud ging - wie einst der Mythenerzähler Piaton - von einer doppelgeschlechtigen Urgestalt des Menschen aus; nur daß sich der Vater der Psychoanalyse dabei auf die Erkenntnisse der Embryologie berief. Erwachsene mit frei flottierenden Neigungen hielt Freud allerdings für unreif. In den zwanziger Jahren, den Boaring Twenties, probierte in den Metropolen die Bisex-Schickeria den Bollentausch. „Ein bißchen bi schadet nie”, hieß schon damals das Motto in schrägen Nachtlokalen.

Daß wir heute - kurz vor der Jahrtausendwende erneut von einer -allerdings noch stärkeren - Bisex-Welle erfaßt werden, stellt der Zürcher Psychoanalytiker Peter Schneider in Abrede. Er läßt auch nicht die mancherorts geäußerte Behauptung gelten, daß sich die Geschlechter heute mehr und mehr annähern. Auch der Hamburger Sexualwissenschafter W'olfgang Berner sieht kein Ende der traditionellen Geschlechterrollen. „Auf der einen Seite wird zum Beispiel wieder ganz traditionell geheiratet, in weiß und jungfräulich. Auf der anderen Seite haben wir die Auflehnung dagegen. Unsere Zeit ist einfach vielschichtiger geworden.”

Die sexuelle Heimatlosigkeit vieler Menschen heute ist Ausdruck von tiefen Identitätskrisen, diagnostizieren Psychoanalytiker. Die zahlreichen sexuellen Irrungen und Wirrungen am Ende unseres Jahrtausends seien also Ausdruck einer existentiellen Verunsicherung - und insofern typische Zeitphänomene.

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