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Seziertisch und 1001 Nacht

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EIN WOCHENTAGSSPAZIERGANG durch die Währinger Straße und das angrenzende Klinikviertel oder ein abendlicher Besuch in einem der Cafes und Espressi in Hochschulnähe bestätigen, was die Hochschulstatistik in trockenen Zahlen ausdrückt: die Zahl der Studierenden aus den Ländern des Nahen Ostens, die an Wiener Hochschulen inskribiert sind, ist in den letzten drei, vier Semestern sprunghaft angestiegen. Aus dem Bild der Hörsäle, vor allem der medizinischen Fakultät, sind die dunkelhaarigen, dunkeläugigen Fremden nicht mehr wegzudenken, im Straßenbild fallen sie schon fast nicht mehr auf. Hin und wieder hört man von einer etwas heftigeren politischen Auseinandersetzung zwischen Vertretern verschiedener nahöstlicher Staaten in einem Lokal — eine Form1 des Zur-Kenntnis-Nehmens, die eine gefühlsmäßig negative Reaktion zur Folge hat. Aber die menschlichen Hintergründe, die drohende kulturell-geistige Vereinsamung dieser Angehörigen fremder Lebenskreise inmitten der alten Kulturmetropole Wien — sie interessieren nur die wenigsten.

IN ERSTER LINIE sind es natürlich studienmäßige Fachinteressen, die die Studenten aus Kairo oder der Wüste von Sakkara, aus Teheran oder Bagdad, Amman oder Matra hierher geführt haben: der Ruf der Wiener medizinischen Schule, die Anerkennung, die österreichische Techniker in aller Welt genießen. Aber darüber hinaus verbrechen“ sie sich auch irii£T generelle Bereicherung ihres“ Welt- und Lebensbildes, erwarten sie eine innere Beziehung, die die Basis sein könnte für fundierte kulturelle und auch wirtschaftliche Beziehungen zwischen Oesterreich und ihren Ländern, sobald diese junge, heute noch lernende Generation in die Führungspositionen ihrer Heimat aufgerückt ist. Und dies gilt überraschenderweise für den armen, nur auf dem Wege eines staatlichen Stipendiums in Wien Lebenden und Studierenden wie für den Sohn des hohen Würdenträgers, dem finanzielle Probleme fremd sind.

Der Wunsch nach geistigem Kontakt ist ebenso stark und tritt ebenso spontan in den Vordergrund jedes Gespräches wie die Sehnsucht, als Angehörige alter Kulturvölker betrachtet, kurz, ernst genommen zu werden und nicht als „Unterentwickelte“, als „Kameltreiber“ oder „Halbwilde“ zu gelten.

PARWIZ PEJHAN IST PERSER und besucht an der Akademie der bildenden Künste die Meisterschule bei Professor Dr. Rainer. Sein Standpunkt ist treffend: „In Oesterreich glaubt man, bei uns zu Hause herrschen noch Verhältnisse wie in Tausendundeiner Nacht.“ Tatsächlich aber verfügt Teheran zum Beispiel über eine Architekturakademie, die ausgezeichnet ist, nur auf die Fächer der praktischen Moderne weniger eingeht — dies der Grund, warum Parwiz Pejhan mit Gattin Mahinbanou nach Wien gekommen ist, übrigens aufmerksam geworden durch einen in Persien tätigen Oesterreicher. Daß die Pejhans schon aus beruflichen Gründen künstlerisch interessiert sind und daher Theater und Oper besuchen, ist ihnen selbstverständlich. Aber selbst zu zweit fühlen sie merklich die Abgeschlossenheit. Man lebt auch in Wien in einer Kolonie von Studenten aus demselben oder einem benachbarten Staat. Und so ist

Wunsch Nummer eins: „Gebt uns Sprachkurse, schafft Klubs, in denen wir mit Oesterreichern echten Kontakt bekommen, helft uns, euer Land kennenzulernen und zu verstehen.“

MIT DIESEM WUNSCH geht ein Gedanke Hand in Hand, der weit über die Organisation solcher Kurse hinausreicht: die Idee des Verstehen w o 11 e n s. Es steht außer Frage, daß Oesterreich gerade in den Staaten des Vorderen Orients außerordentliche Chancen besitzt. Noch immer ist dort, aus vergangenen Tagen her, das Mißtrauen gegen den anglo-amerikanischen Kulturkreis da. Deutschland ist in wirtschaftlicher wie in kultureller Hinsicht sehr eifrig um diese Staaten bemüht: die Goethe-Gesellschaft beginnt sich an Ort und Stelle eine Basis zu schaffen, die Deutsch-Arabische Gesellschaft umfaßt eine Reihe sehr maßgeblicher Persönlichkeiten. Trotzdem bleibt auch Deutschland gegenüber in den Völkern selbst eine gewisse Reserve bestehen, die in der wirtschaftlichen Macht der Bundesrepublik begründet ist. Man erinnert sich an den alten „Drang nach dem Osten“, an die Projekte „Berlin—Bagdad“. Hier hätte Oesterreich eine echte Chance, und es sind auch schon durchaus vielversprechende Ansätze zu bemerken: In Mossul ist ein österreichisches Lehrerteam an einer unter österreichischer Leitung stehenden Baufachschule tätig, in Teheran entsteht eben eine Gewerbeschule, „Kamune Kar“, deren Einrichtung komplett aus Oesterreich stammt und für die I ebenfalls österreichische Lehrer angefordert wurden. In Teheran ist eben ein Biochemisches Universitätsinstitut in Gründung,

über welches das Wiener Institut unter Professor Dr. Seelich die Patronanz innehat.

Darüber hinaus ist klar, daß diejenigen Vertreter der nahöstlichen Staaten, die heute noch Studenten sind, eines Tages selbst Lehrer, Professoren, Wirtschaftsführer sein werden. Sie werden dann darnach trachten, in ihrer Heimat Schulen und ganze Schulsysteme nach dem hier kennengelernten Muster zu errichten. Für die nichttechnischen und nichtpädagogischen Fächer gilt ein ähnliches: Wenn etwa Dr. S. M. Yous-suf, den wir auf der Universitätsaugenklinik von Professor Dr. Böck trafen, heimkehren wird zu seiner Dienststelle bei der North Western Pakistan Railway — also in ein Gebiet, das schon an der Grenze dessen liegt, was sinngemäß in den Begriff des Nahen Ostens fällt —, wird er seine hier erworbenen Spezialkenntnisse der Augenheilkunde weitergeben und damit automatisch Werbung für Oesterreich betreiben.

DER NAHE OSTEN umfaßt heute eine Bevölkerung von rund hundert Millionen. Im Vergleich dazu scheint die Zahl der in Wien Studierenden natürlich verschwindend gering. Aber immerhin waren es im vergangenen Studienjahr rund 850 Hoch- und 100 Gewerbeschüler, und die Zahl hat sich im heurigen Studienjahr rundweg verdoppelt. Damit ist immerhin eine Zahl erreicht, die schon einbezogen wird in alle Bedenken, die von hochschulpolitischer Warte gegen eine Ueberausländerung unserer Hochschulen geltend gemacht werden. Zudem machen sich in ihren Kreisen zweifelsohne auch politische Elemente bemerkbar, die keineswegs schätzenswert sind. Umgekehrt aber wäre es gerade deswegen hoch an der Zeitj ein positives Gegengewicht zu schaffen. Denn die Gefahr, daß innerhalb solcher Studentenkolonien ein völlig einseitiges und auch nicht günstiges Bild von Oesterreich und damit von Europa entsteht, ist groß. Selbst eine Studentin der Universität, die Oesterreich außerordentlich wohlgesinnt und allem Europäischen gegenüber durchaus aufgeschlossen ist, stellte fest: „Im Vergleich zu Daheim — das ist Perslen — ist in Oesterreich les moderner, der Lebensstandard und auch das Kulturniveau sind höher. Aber es scheint hier kaum einen Familiensinn zu geben, alles ist nur auf Geldverdienen und Rechnungstellen aus — das Leben ist hier so materiell.“

Die Einsamkeit. trifft natürlich Studenten ausgefallenerer Richtungen stärker: die Mediziner sind eine so große Zahl, daß auch auf Semester, verteilt, immer eine beträchtliche Gruppe Gleichaltriger aus einem Staat sich finden kann. Solche Gruppen sieht man dann in den Cafes und Espressis rund um die Universität und,die Kliniken, wenn sie gemeinsam lernen oder auch plaudern, Gesellschaftsspielen nachgehen oder sich auf andere Weise die Zeit vertreiben. Manchmal sind auch einige Wiener Mädchen bei ihnen — aber nicht immer solche, von denen man annehmen kann, daß sie den jungen Orientalen ein echtes, geistiges Bild des Abendlandes vermitteln. In mancher Hinsicht aber ist diese Art der Geselligkeit gefährlicher als die bewußte Kontaktlosigkeit: wer einsam ist, wird trachten, wenn schon nicht mit Menschen, so doch mit Museen, Kunststätten oder auch sportlichen Darbietungen eine Art Brücke zum Gastland zu finden; wer einen Kreis um sich hat, wird dies meist nicht tun. Und so entsteht dann in den Gehirnen der Eindruck, Oesterreich sei das, was man im Kaffeehaus und von einem blonden Wiener Mädel lernt. Zudem bieten stark ausgeprägte Kolonien von Angehörigen verschiedener Staaten des Nahen Ostens Gelegenheit, anläßlich politischer Spannungen in und zwischen diesen Staaten erregte Debatten abzuführen, die manchmal mit mehr Temperament verfochten werden als es dem Wiener Cafetier lieb ist — und damit wird gewaltsam das Problem der Orientstudenten in ein falsches, weil schiefes Licht gerückt.

„NEHMT UNS FÜR VOLL, laßt uns teilhaben an eurem Leben!“ Das ist — ausgesprochen oder unausgesprochen — der große Wunsch dieser fünfzehnhundert jungen Menschen, hinter denen' Hundertmillionenvölker stehen: Wenn man die politische und

•.irtfffeÄflbf Zufeitmalösi dieser Staaten in Betracht zieht, zeigt sich klar, daß hier wohl menschliche Investitionen von uns verlangt werden, aber keine Almosen: Denn echte Beziehungen und Freundschaften zu dieser Welt sind schön heute wertvoll und werden in ihrer Bedeutung noch zunehmen. „Nehmt uns für voll, kümmert euch um uns. verstellt euch nicht vor uns!“ — dieser Ruf ist in den Universitätsstädten mit Wien an der Spitze nicht mehr zu überhören. Er wird auch nicht mehr verstummen.

ES IST SCHWER, auf solche Wünsche, Sehnsüchte und Meinungen mit Phrasen — mögen sie auch ernst gemeint sein — zu antworten, das Wort von her Kulturmission Oesterreichs in die Debatte zu werfen oder das Interesse Oesterreichs an den Menschen des Nahen Ostens damit dokumentieren zu wollen, daß man in Wien schon seit dem Jahre 1627 wissenschaftliche Orientalistik betreibt, daß die weltberühmte Wiener Konsularakademie aus der Akademie für morgenländische Sprachen hervorgegangen ist, die immerhin schon 1754 gegründet wurde, und daß das Theresianum Schüler aus dem Nahen Osten ausbildete zu einer Zeit, da sich weder eine UNESCO noch eine andere weltweite Organisation um die völkerverbindende Mission der Schule bekümmerte.

SEIT EINIGEN MONATEN nun ist der Versuch im Gange, von diesen Traditionen zu den modernen Bedürfnissen eine Brücke zu schlagen: in Wien konstituierte sich im Palais Palffy die „Hammer-Purgstall-Gesellschaft“, die all das, was sich aus den Gesprächen mit Orientstudenten in Wien als nötig erweist, realisieren will. Ein Beginnen, das zu begrüßen ist, dessen Aktualität und Bedeutung aber nur der schätzen kann, der die Probleme und Anliegen derer kennt, die nach Wien gekommen sind, um neben ihren Fachstudien auch eine echte Begegnung mit dem Abendland zu erleben, mit dem Abendland, das zu repräsentieren auch Oesterreich verpflichtet ist.

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