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„...sie haben seine Thora zerrissen!“

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Der als Babylonist große Gelehrte Franz Delitzsch, der sich im Bibel-Babel-Streit eine eigenartige Berühmtheit erwarb, schrieb nach dem Erscheinen des programmatischen Buches von Julius Wellhausen „Prolegomena zur Geschichte Iraels“ (1883) an seinen Freund Von Orelli in einem Brief: „Es ist Zeit für den Gott der Offenbarung zu handeln; denn sie haben seine Thora zerrissen!“

Dieses Wort klingt auch heute noch nach und ruft mehr denn je in die Entscheidung. Es gibt zwei Brennpunkte, an denen sich die Geister scheiden: die großen Aufbrüche und Ursprünge der Offenbarungsreligion. Lebendige Persönlichkeiten stehen an dem Anfang beider Wege,, sagen die einen; die anderen behaupten, es handle sich nur um arme Menschen, die der nachfolgende Glaube mit gläubigen Mythen und Fabeln umwoben und sogar ins göttliche

Licht erhoben habe. Der eine große Ursprung leitet sich von Moses her, der andere schlechthinnige Anfang aber beginnt in Christus. Da beide Persönlichkeiten in die Geschichte hinein wirkten, muß auch der Weg zu ihnen ein Weg der geschichtlichen Forschung sein. Von beiden berichten Bücher, die uns die Geschichte bis in unsere Tage weitergegeben hat; von dem einen die fünf Bücher Mosis, vom anderen die vier Evangelien.

Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts galt als fast allgemeine Anschauung, daß das Fünferbuch (Pentateuch) Mosis im großen und ganzen aus der Hand des Moses selber stamme. Seit dieser Zeit findet die Frage, wann, wie und durch wen das Fünferbuch verfaßt worden ist, keine einheitliche Antwort mehr. Die Kritik wurde eigentlich durch die Gelehrten des katholischen Barock vorbereitet, die schon an nahmen, daß von Moses nur .Tage- und

Jahresbücher stammen, daß die endgültige Redaktion des Pentateuchs entweder von Josuc oder später durchgeführt wurde. Die protestantischen Bibelgelehrten der Reformationszeit hatten zwar mit der Tradition ganz und gar gebrochen und stellten an Stelle des belehrenden und erklärenden Wortes der Kirche das vom Geiste erleuchtete Wort der Schrift, das in privater Lesung erlauscht wurde. Durch die Überbetonung der Inspiration verbauten sie sich zunächst jeden Weg zu einer vernünftigen Kritik. Denn, wenn die Schrift bis auf den einzelnen Buch-taben mit Ausschaltung der persönlichen Eigenart des Schriftstellers Gottes Wort ist, wer wagte es dann noch daran Kritik zu üben? Unter dem Einfluf? 5tdes Humanismus und der katholischer Kritik löste sich diese Überspitzung, um aber bald darauf in das Gegenteil zu verfallen. Der Gegenpol zu dem an das Geistwort der Schrift krampfhaft Glaubenden in der Nachreformationszeit ist der das Wort der Schrift bezweifelnde und an ihm verzweifelnde Mensch der „kritischen Theologie“, als dessen klassischer Vertreter Julius Wellhausen (t 1918) gilt.

Im Vorwort zur zweiten Ausgabe der „Prolegomena zur Geschichte Israels" 1883 schrieb Wellhausen: „Die kirchliche Wissenschaft werde seiner neuen Entdeckung gegenüber ihre Aufgabe darin sehen, sie fünfzig Jahre zu widerlegen, danach einen mehr oder minder geistreichen Gesichtspunkt ausfindig machen, unter welchem dieselbe ins Kredo aufgenommen werden kann." — Wenn wir heute nach um etliches mehr als 50 Jahren auf diese Prophezeiung Wellhausens zurückblicken, müssen wir leider sagen, daß sie nicht nur nicht eingetroffen ist, sondern daß im Gegenteil die Aufstellungen der Kritik in allen Fugen krachen und dem vollen Einsturz nahe sind. „Denn morsch geworden ist das Haus!“

Um Wellhausen richtig zu verstehen, muß man sich sowoh1 mit seiner religionsgeschichtlichen als auch mit seirfer textgeschichtlichen Konstraktlon auseinander- setzen. In bezug auf die Religionsgeschichte stand er ganz im Banne seiner Zeit, die an die „Evolution“, an die Fortentwicklung bis zum „Gottmenschen“ hin glaubte. Dieser Konzeption entsprechend, steht am Anfang der Religion nicht bloß der kulturell, sondern auch der religiös primitive Mensch, wobei man unter primitiv Fetischismus, Animismus, Polydämonismus und Geisterglaube verstand. Dieses allgemeine Religionsschema wurde von Wellhausen im besonderen auf die Geschichte der alttestament- lichen Religion angewendet. In der vormosaischen Stufe habe Israel also an das Walten von Geistern und Dämonen geglaubt. Von einer klaren Gottesidee sei noch keine Rede. Jahve sei vor allem ein unberechenbarer Gewirtergott, ein drohender Wüstendämon, der noch keine sittlichen Bindungen und Hemmungen kenne. Den sittlichen Gotteshegriff haben erst die Propheten in zähem Kampf gegen das materialistische Volk in Israel eingeführt.

Hand in Hand mit dieser religionsgeschichtlichen Konstruktion geht die textkritische. Es existieren nämlich im Text des Pentateuchs viele Fragen, die zu einer Kritik herausfordern, wie Doppelberichte, Wiederholungen, Unstimmigkeiten in der Erzählung und Anachronismen. Während man bisher angenommen hatte, daß diese Bücher aus dem zweiten Jahrtausend stammen, stellte die Kritik diese Auffassung mit einer Kühnheit und Bedenkenlosigkeit auf den Kopf und erklärte, aus der Moseszeit stamme überhaupt nichts. Alles sei erst im Laufe der Geschichte aus verschiedenen Quelbtrömen zusammenzeflossen, die sich schließlich auf die vier Hauptströme: den Elohisten, Jahvisten, Deuteronomisten und den Priesterkodex vereinigten.

Diesen allzu kühnen und willkürlichen Aufstellungen gegenüber Hielt die katholische Wissenschaft unerschütterlich an der Verfasserschaft des Moses fest. Wohl könnten in späterer Zeit Überarbeitungen und Einschübe vorgekommen sein, doch der wesentliche Teil stamme von Moses.

Aby nicht bloß im katholischen Raum, sond n auch in protestantischen Kreisen wie auch von seiten der Profanwissenschaften wurde die Wellhausensche Pentateuchtheorie einer kritischen Überprüfung unterzogen. Zunächst korrigierten die Ausgrabungen im Orient in bedeutenden Punkten das Geschichtsbild. Dann überspitzte sich die Kritik von Wellhausen und seiner Schule in ihren eigenen Aufstellungen so sehr, daß sie sich ad absurdum führte.

Als Wellhausen 1883 in seinen Prolegomena das Sinaimassiv zu stürzen schien, war der alte Orient noch vielfach unbekannt. ln den darauffolgenden Jahrzehnten aber überstürzten sich die Neuentdeckungen aus dem alten Orient. 1872 veröffentlichte Eb. Schrader „Die Keilschriften und das Alte Testament“. 1887 kamen die aufsehenerregenden Funde von Tell-el-Amarna in Ägypten, ein Archiv von Briefen, die die Geschichte Kanaans kurz vor dem Eindringen der Israeliten überraschend konkret darstellen und Veröffentlichungen von verschiedenen assyrischen Inschriften erlaubten, die Königsgeschichte Israels auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Dann fand man 1906 bis 1908 die Papyri von Elephantine, die./ neues Licht auf die Zeit nach dem Exil und die Bücher Ęsra und Nehemia warfen. Dazu kam noch die Auffindung des Codex Ha- murapi, der lange vor Moses einen ausgeprägten Rechtskodex darstellt; schließlich noch die Bodengrabungen, zu deren bedeutendsten seit 1930 die Ausgrabung des alten „kanaanäischen“ Ugarit zählt...

. AU diese nicht hinwegzuleugnenden Tatsachen zwingen zu einer Revision der von Wellhausen und seiner Schule aufgestellten .Geschichtskonstruktion. Dazu kommt noch, daß die Kritik sich selbst überholte, indem man mit vier Quellen kein Auskommen mehr fand. Otto Eißfeldt spricht in seiner Einleitung 1934 bereits von „Erweichungen" der klassischen Auffassung, da er selber neben den Jahvist-Elohisten eine dritte sogenannte Laienquelle annehmen zu müssen glaubt. Dazu spaltet er den Priesterkodex weiter in zwei Quellen auf. Das nächste Stadium beschreitet Hermann Gunkel, der die Frage nach dem Verfasser ganz beiseite läßt und einfach nach „dem Sitz im Leben“ dieser so vielgestaltigen mosaikartig zusammengefügten Erzählungen sucht. Nach außen ganz verschiedene Erzählungstypen können aber den gleichen Sitz im Leben haben. Mit dieser These stürzt die andere der Kritik zusammen, wonach gerade die Verschiedenheit der Quellen auf Verschiedenheit der Entstehung und der Verfasser schließen zu müssen glaubte.

In . Anbetracht dieser labyrinthischen Ausweglosigkeit' erwacht wieder der Glaube und das Vertrauen in die Tradition. Die Ausgrabungen machen eine Verfasserschaft des Moses geschichtlich möglich, die Tradition bestätigt dies. Welchen Weg wird die kritische Theologie nun einschlagen?

Während Wellhausen Moses in ein fernes sagenhaftes unwirkliches Licht rückt und daher es unmöglich macht, die Worte Mosis als Gottesworte im letzten ernst zu nehmen, vollzieht Eichrodt in seiner „Theologie des Alten Testaments“ 1933 eine neue Begegnung mit Moses. „Denn am Anfang der israelitischen Geschichte steht das Charisma, die besondere individuelle Begabung einer Person; auf ihr ruht die ganze Stiftung so sehr, daß sie ohne dieselbe nicht denkbar wäre.“ „Also steht am Anfang nicht das Unvollkommene, Primitive, sondern das Vollkommene, Ideale!“

In einem Rechenschaftsbericht führte der Rektor des päpstlichen Bibelinstituts in Rom schon 1935 aus: „Wir leben in bezug auf die Pentateuchkritik oder, sagen wir es allgemein, in bezug auf die Literarkritik überhaupt in einer neuen Zeit.“ (Bibi. 1935, 175.) Was vor dem Krieg galt, ist heute nach dieser großen Katastrophe noch in verschärfter Weise wahr geworden. Die junge Generation im protestantischen und katholischen Raum ist müde, sehr müde geworden der ewigen Textkritik. Wellhausen lehrte, das Gesetz stünde am Ende des Weges; die Geschichte zwingt uns, das Gegenteil anzunehmen? Wem sollen wir glauben? Was ist uns letztlich die Schrift? Auf wessen Autorität hin sollen wir sie -annehmen? Sollen wir sie auf den Namen des Wellhausen, Graf, Eichrodt und schließlich eines anderen menschlich „großen" Gelehrten annehmen, oder nehmen wir sie wieder im Namen Gottes als geoffenbartes Gotteswort an?

Aus dieser existentiellen Situation erwächst in der jungen Theologengeneration um so lauter der Ruf nach einer „Theologie der Bibel". Text kritische und 1 i t e r a r k r i t i s c h e Fundierung ist notwendig, aber immerhin nur Fundament, darauf sich dann der Gottesdom erheben: das Bild Gottes, der souverän in die Geschichte der Menschen eingreift, zerschlägt und aufbaut, der Gott,

der das Heil will und seinem Christus die Wege durch die Jahrtausende bereitet. Wir fragen nach der psychologischen Vielseitigkeit und der menschlichen Tiefe des Propheten und Gesetzgebers, der durch das Charisma in dis finstere Licht Gottes hineingehoben ist. Die Bibel muß daher als Gottesbuch zugleich ein Buch menschlicher Existenzdeutung sein, das aber nicht mit der Relativität der Religionsgeschichte mit zweifelndem Achselzucken angenommen wird, sondern in der Unbedingtheit des Glaubens. „Drum laßt uns“ — um mit einem Worte Theodorets zu schließen — „zurückkehren zu Moses, dem Ozean der Theologie, aus dem, bildlich gesprochen, alle Ströme, ja das ganze Meer hervorbricht!“ Denn uns liegt es ferne, immer nur bloß einseitig zu verteidigen und zu verdammen; wir wollen zur gemeinsamen Mitte vorstoßen, welche ist: das Wort Gottes!

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