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Sie sterben, ehe sie dreißig werden…

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Im Stadtbild und in der Gesellschaft von Bombay spiegeln sich Kolonialgeschichte, Gründerzeit und die beginnende Industrialisierung wider. Das Stadtzentrum ist. großzügig geplant und repräsentativ, in westlichem Baustil gehalten, und wird von einer Gesellschaftsklasse bewohnt, die ihre Entstehung den auswärtigen Beziehungen des Landes während der europäischen Kolonialzeit verdankt. Die sogenannten „Vorstädte” hingegen sind eine Anhäufung verwahrloster asiatischer Dörfer, deren Besiedler sich von der indischen Mittelklasse ebenso unterscheiden wie die Slums von der City.

Ich habe von der UNESCO den Auftrag erhalten, soziologische Untersuchungen unter der indischen Industriebevölkerung durchzuführen. Ich lebte viele Monate in den Slums von Kalkutta, Bombay und Ahmadabad. Ich teilte die Vergnügungen der Kulis, aß ihre Speisen, spielte ihre Spiele und ging mit ihnen in die Fabriken. Als „teilnehmender Beobachter” studierte ich auf diese Weise das Gesellschaftsleben der Leute. Sechs indische Interviewer unterstützten mich bei dieser Arbeit.

LANDLOSE, ARBEITSLOSE, HOFFNUNGSLOSE

Es ist schwer, eine Vorstellung von der Ausdehnung und Trostlosigkeit der indischen Slums, der „Bustees”, zu geben. Gluthitze, Gestank, Ueberbevölkerung, Cholera-, Typhus- und Blatternepidemien, Lepra und Elephantiasis, Armut und Unrat haben hier furchtbare Ausmaße angenommen. Nur sechs Prozent der städtischen Wasserversorgung stehen unter sanitärer Kontrolle. Infektionen durch verunreinigte Getränke und Nahrung, wie Ruhr und Typhus, sind tägliches Los. Die durchschnittliche Lebenserwartung des Inders (30 Jahre) wird von den Unglücklichen, die hier hausen, nicht erreicht.” Detmeeh’ dehnen1 siebf-äfese-’T,Städte ’ dauernd aus. Ihre Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten um 60 Prozent angestiegen. Die durchschnittlich pro Kopf zur Verfügung stehende Wohnraumquadratmeterfläche ist nicht mehr als 2 X 1,3 Meter. Das ist gerade so viel, wie ein Mann zum Schlafen braucht. Wenn man nachts durch die übelriechenden Gassen und Hinterhöfe geht, stößt man auf hunderte, tausende „Gehsteigsiedler”. Das sind Leute, die überhaupt keinen Unterschlupf mehr haben. Sie zeugen, gebären und sterben in Winkeln, unter Brücken, zwischen Unrat und Moder. In Städten wie Kalkutta vegetieren sechs Millionen Menschen in derartigen Elendsgebieten, in Bombay und Madras sind es zwei oder drei Millionen.

Wenn der Monsun, wie im Jahr 1957, lange ausbleibt, wüten die Epidemien heftiger als üblich. Manche Fabriken arbeiten dann viele Wochen hindurch nur mit der Hälfte ihrer Belegschaft. Die dichtbevölkerten Arbeiterquartiere sind mit Kranken überfüllt. Die wenigen Spitäler der Vorstädte sind längst bis auf die Veranden und Korridore besetzt. Manche Industrieunternehmen haben wohl einen Fabrikarzt und ein oder zwei von der Betriebsleitung angestellte Sanitäter. Man sieht zuweilen auch sogenannte Sozialarbeiter, die im Dienste von wohltätigen Vereinen oder der Regierung stehen. Ihre Arbeitskraft reicht jedoch nicht im entferntesten aus. Noch schlimmer aber ist der Umstand, daß die Bevölkerung der Elendsquartiere von ihnen nichts wissen will. Aerzte und Fürsorger haben mir wiederholt erzählt/ daß sie mit Steinen und Kot beworfen wurden, als sie die Verwahrlosten betreuen und in den „Bustees” Schutzimpfungen vornehmen wollten. Der Grund hierfür sind vor allem abergläubische Vorstellungen und verschiedene Ressentiments. Viele der Leute versuchen auch ängstlich geheimzuhalten, wenn ein Familienmitglied ernstlich erkrankt oder von einer ansteckenden Seuche befallen ist. Die Gesunden helfen den Kranken - so gut sie es verstehen -, bis sie selbst angesteJct sind.- Natürlich verbreiten sich die Epidemien auf diese Art rapid. Die Isolierung von Kranken mit Infektionsgefahr kennt man nicht. Sie ist in den überbevölkerten Elendsgebieten der ausgedehnten Vorstadtdörfer auch gar nicht möglich.

DAS DORF IN DEN SLUMS

Um die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich hier abspielen, überhaupt studieren und analysieren zu können, mußte ich mich in einen Stadtbezirk begeben, in dem noch einigermaßen geordnete Verhältnisse herrschen. Eine Reihe von Umständen waren dafür maßgebend, daß ich mich zuletzt für Kuria, einen nördlichen Vorort von Bombay, entschied, wo es eine große Baumwollfabrik gibt.

Die Besonderheit des Siedlungsgebietes von Kuria ist, daß die Bevölkerung, die rund um die Baumwollfabrik Swadeshi lebt, zu 50 bis 80 Prozent aus der gleichen ländlichen Gegend eingewandert ist.

Hier war, mitten in den Slums, ein indisches Dorf mit all seinen Tempeln und Kasteneinteilungen, seinen Trennungen und Honoratioren aufs neue entstanden. Die Unberühr- baren siedeln in ihrem abgetrennten Getto und haben dort, wie in den Dörfern, ihren eigenen Wasseranschluß und Versammlungsplatz. Die Brahmanen haben ihr separiertes Siedlungsgebiet, wo sie hauptsächlich untereinander soziale Beziehungen pflegen und den niederen Kasten den Zutritt zu ihren Tempeln und Hütten verwehren. Auch die anderen Kasten leben gesondert, je nach dem erblichen „Rang” und Ansehen, die ihnen auch in ihren Dörfern seit alters her zukommen.

Im Vorstadtbezirk Kuria ist es, ebenso wie in den „Bustees” oder Slums, bis heute noch zu keinem richtigen „Klassenbewußtsein” der indischen Arbeiter und Arbeitslosen gekommen. In Kuria zerschneidet noch die alte Rangordnung des ererbten Kastensystems eine aufkommende Solidarität der Fabrikarbeiter. In den „Bustees” erstickt die nackte Not und der gänzliche Verfall aller menschlichen Einrichtungen jeden Versuch einer sozialen Neuordnung.

Dies bereitetnatürlich besonders den Gewerkschaftsführern “und Parteifunktibnaren Kopfzerbrechen. Denn auch in Indien versucht heute eine zahlenmäßig noch kleine, aber politisch und geistig aktive Schicht, eine gesellschaftliche Umwälzung herbeizuführen. Die Forderung nach Erhöhung des Lebensstandards, nach Industrialisierung, nach Abschaffung der Kasten und Formierung einer politisch bewußten Arbeiterschaft geht in Indien keineswegs von den Rechtlosen und Ausgestoßenen aus. Nach dem „Fortschritt” rufen vor allem Angehörige der gebildeten Mittelschicht. Sie bilden die Kader aller kulturellen, sozialen und politischen Organisationen, gleichgültig, ob diese der Kongreßpartei, den Sozialisten oder den Kommunisten nahestehen.

Ich habe während meines Aufenthaltes in den Slums von Bombay, Kalkutta und Ahmadabad viele dieser Leute kennengelernt. Fast keiner dieser „Arbeiterführer” ist jemals selbst Arbeiter gewesen. Sie haben diese Funktion nur übernommen, um politische Karriere zu machen; manche aber auch aus philanthropischen Motiven oder weltanschaulichen Gründen. Sie sprechen gewöhnlich Englisch und sind durch Studien an einer Universität oder Bibliothek zur Ansicht gekommen, daß nun auch für Indien „die Zeit reif” sei. Sie propagieren mit Nachdruck, daß die Vorurteile der Kastenhierarchie ridäktiötlSt Siimdlsüberlebt atžlrefl,’ -”tifllF ‘|%i sich, die Arbeiter zu einheitlichen Aktionen zu gewinnen. Ihr erziehlicher Einfluß auf die Massen ist heute noch nicht bedeutend.

Freilich ergeben sich auch aus der Arbeit und den Lebensbedingungen in den Industriegebieten „von selbst” gewisse Verschiebungen innerhalb der traditionellen Kastenordnung. So kann es geschehen, daß einmal ein Unberührbarer es zum Vorarbeiter gebracht hat, dem vielleicht sogar ein verarmter und zum Hilfsarbeiter gewordener Brahmane untersteht. Da kommt es zur Auseinandersetzung zwischen dem erblichen Statusprinzip der Kasten und dem „Leistungsstatus” einzelner, die Karriere gemacht haben. Wenn dieses Verhältnis überhaupt funktioniert, so setzt es sich doch heute noch nicht in der privaten Sphäre fort. Dieser Vorarbeiter würde von vielen Hochkastigen, die einfache Arbeiter geblieben sind, niemals in ihrer Hütte empfangen werden. Das Abdrängen von ererbten Sitten in die vier Wände des eigenen Hauses konnte ich wiederholt beobachten. Es ist offensichtlich als ein erstes Zeichen eines beginnenden sozialen Wandels zu werten.

ES GÄRT IN DEN ELENDSQUARTIEREN

Diese langsam um sich greifenden UmwälzungbS heute durch die Aktivität der Cjęį werkschaften, Parteien, Sozialfürsorge, Schulen und nicht zuletzt durch die Gesetze der Regierung forciert. Man verfolgt in Indien von „oben her” eine bewußte und systematische Desegre- gationspolitik. Darunter versteht man die Aufhebung jener Schranken, welche die verschiedenen Kasten, Religionen, Rassen und Sprachengruppen voneinander trennen. Auf diese Weise soll das Werden einer indischen Nation und eine durchgreifende Sozialreform beschleunigt werden. Die indische Mittelklasse ist der Ansicht, daß man keine Zeit zum Warten habe.

Die beginnende Auflösung der alten Kastenordnung und Großfamilienstruktur sowie der unausbleibliche Autoritätsschwund der religiösen Führer machen es wahrscheinlich, daß man mit der geplanten Infiltration vor allem in der heute heranwachsenden Generation Erfolg haben werde. Die altüberkommenen Institutionen werden in den Fabrikgebieten immer mehr perforiert, die Jugend ist durch sie nicht mehr geschützt wie ehedem. Sie ist in den Reifeiahren den verwirrenden Einflüssen der Vorstadt und der immer massiver werdenden Beeinflussung durch moderne Institutionen und politische Ideologien mehr und mehr ausgesetzt.

Wohin diese Entwicklung führt, wird wohl für längere Zeit noch davon abhängen, für welches politische System sich die Exponenten der indischen Mittelklasse entscheiden. Denn das indische Industrieproletariat ist — von einer ganz verschwindend geringen Ausnahme abgesehen — bis heute noch nicht politisch bewußt geworden. Wenn es jedoch nicht gelingen sollte, eine materielle Besserstellung dieser verwahrlosten Massen in absehbarer Zeit zu erreichen, so könnte gerade die heute heranwachsende, etwas- aufgeschlossenere Generation zu einem dankbaren Objekt für Agenten einer radikalen politischen Ideologie werden.

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