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„Sie werden eine Reise maclien 7

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Seitdem ich allwöchentlich mein Horoskop lese, hat das Leben wieder einen Inhalt bekommen. Sonst passierte rein gar nichts, jetzt dagegen: „Sie stehen vor wichtigen Entscheidungen“, „Jetzt heißt es für Sie, die Nerven nicht verlieren!“, „Befragen Sie jetzt mehr Ihr Herz als Ihre Vernunft“ — kurz, meine Existenz ist recht spannend geworden, so daß ich das funkelnde Firmament (abends, nach dem Kino) wie einen sensationellen Spezialkorrespondenten begrüße. Zwar passiert noch immer nichts, doch ich habe immerhin das Gefühl, daß man sich dort für mich interessiert. Es ist, als ob man durch irgendein Schlüsselloch in die Zukunft blinzelte. Darum rate ich jedem, das Horoskop, und am besten gleich mehrere, zu lesen. Man lernt allerhand zu über sich. Man ist wer.

Hiermit erlaube ich mir, mich als Skorpion vorzustellen. Wenn ich auch nicht viel im Leben erreicht habe, dieses ist immerhin etwas: Ich bin ein Skorpion-Mensch. (Jedenfalls mehr als Nichtraucher.) Das Tier soll ziemlich giftig sein. Meine Bekanntschaft mit ihm beschränkt sich darauf, daß ich einst in Malariaparoxysmen auf dem Bette lag, während zwei Krankenwärter den von oben gefallenen Skorpion in munterer Hatz um mein Lager jagten. Ohne Zweifel befand ich mich in seinem Tierkreis. Gut, daß ich das weiß, denn eigentlich bin ich schon fast ein „Schütze", weshalb ich auch stets an den Schaufenstern der Flintengeschäfte stehenbleiben muß. Schade nur, daß ich mein Zurweltkommen nicht auf die Minute in Erinnerung halte, denn dann könnte mir die genaueste Nativität gestellt werden, ein Horoskop in Präzisionsausführung - wie Merkur, Venus. Jupiter und Neptun sich damals gerade gestanden haben. Ich tippe dabe stark auf Neptun, denn als Kind war ich ein ergiebiger Tränenerzeuger und fühle noch heute einen heftigen Drang zum Wasser und zu jeglicher Meerfahrt. Warum nicht? Wenn alles mit allem zusammenhängt (und sonst müßte ja das Universum Zusammenstürzen), dann werden wohl auch die Sterne auf die Menschenmikrobe „Ich“ ihren Einfluß haben. Die Astrologie ist ein solides, seriöses Geschäft, zumal da sie ihre Revenuen aus einem Gebiete einstreicht, wo ihr niemand dreinreden kann: der Zukunft. Wenn man Butteraroma, nur wenig gebrauchte Hosen, Staubsauger und Gedichte verkaufen kann, warum soll man dann nicht auch die Zukunft auf den Markt werfen? Die Gegenwart ist ja nicht viel wert und ergibt durch die tiefenpsychologische Diagnose „Du bist ein Trottel“ höchstens eine Gerichtsklage, wo man den Trottel noch entschädigen muß. Die Vergangenheit läßt sich auch höchstens durch Jugenderinnerungen oder Erpressungen verwerten. Aber die Zukunft, die hat noch eine, da gerade nach ihr bei den Sterblichen zunehmende Nachfrage besteht. Mein visionäres Auge sieht in Amerika, dem Lande der Zukunft, bereits an den Straßenecken rotlackierte Horoskopautomaten aufgestellt: „Man werfe 50 Cent in den Schlitz, stelle den Zeiger auf Geburtsdatum ein und ziehe am Handgriff." Dann schnurrt das Schicksal sphinxartig im Apparat und wirft dir einen Kupon heraus, wo alles über dich steht: was du für einen Charakter hast, ob du Geld verdienen wirst, ob er (sie) blond oder brünett ist und worauf du im Leben achtgeben mußt. Jede Woche neue Nachfüllung! Wie schmeichelhaft - die Sterne haben sich um mich abgezappelt. Noch nie hat ein Horoskop gesagt: „Mein Lieber, du bist leider nicht ganz gelungen. Du besitzest eine Herzkammer, eine Hirnschale, eine Familie und einen Arbeitsplatz, nicht mehr und nicht weniger. Dein nichtssagendes Leben wird einen nichtssagenden Verlauf nehmen. Du hinterläßt eine Lücke, die dich ersetzt.“ Aber dabei soll es solche Leute doch geben; sie sollen sogar, munkelt ein Magus, zuweilen die kompakte Majorität ausmachen. Und seltsamerweise hat der Normalmensch recht! Nämlich mit der Ueberzeugung, daß gerade sein Leben von ungeheuerster Wichtigkeit sei — und unrecht darin, daß er den Bedeutungsakzent komischerweise auf Geld oder Einfluß oder Markensammeln setzt. Doch sein Grundgefühl täuscht ihn nicht. (Das ist es ja, was uns am „Osten“ mißfällt, daß er den Menschen nur in der Addition, nicht an sich wichtig nimmt.) Und hier enthüllt sich die Rolle des Horoskops: es ist Religionsersatz. Denn in unserer Religion ist auch der Geringste von einem Wert, gegen den alle Sternenhimmel erblassen: Gott selbst hat sich für ihn geopfert. Wer Religion hat, dem sind also in dieser Hinsicht die Sterne schnuppe. Wer sie nicht hat (das ist letztlich eine Sache des Willens, nicht der Gabe; Gott zwingt nicht mit 2X2 = 4). der schaut einer Lichtspur am Himmel nach und wünscht sich was. Mit jenem Stern, der über jenem Hause ln Bethlehem stehenblieb, hat das Firmament seine Beratungsaufgabe erfüllt. Es jetzt noch weiter befragen, hieße es entwürdigen.

Mit der Zukunft stehen sich die Astrologen gut, sie stehen sich überhaupt gut, mit der zukunftsgierigen Gegenwart natürlich auch — nur mit der Vergangenheit, ,da fängt es an zu hapern. Denn diese hat die widerliche Eigenschaft. einer exakten Kontrolle zugänglich zu sein. Auf den Schrei der Branche: „Bitte, es ist alles eingetroffen!“ nickte die Wissenschaft bloß freundlich, nahm hundert wohlbekannte Lebensläufe, deren Geburtsstunde ermittelt war, stellte denen nach allen Regeln das Horoskop und ließ sodann die Statistik sprechen. Das Ergebnis war, wie bei allen großen Erwartungen, enttäuschend: etwa 20 Prozent gingen mit dem Horoskop, bei 30 Prozent konnte man noch eine entfernte Aehnlichkeit hineinschauen, die übrigen 50 Prozent hatten sich um ihr Horoskop überhaupt nicht gekümmert. Also eine Schicksalstombola mit 20 Treffern auf 100. Man verstehe: dieses Ergebnis war noch peinlicher, als wenn sich kein einziger an das Horoskop gehalten hätte ... Ich möchte zu einer verbesserten Wiederholung des Experimentes raten. Auf dem Erdball werden in jeder Minute viele Kinder geboren. Der Nativität nach müßten sie einen ähnlichen Charakter und ähnliche Schicksale haben (ich weiß, die Astrologen leugnen den freien Willen nicht — aber nur deshalb, weil sie nicht anders können). Man greife zwanzig der Minutengeschwister heraus und beobachte, im geheimen, ihr Leben: etwa fünf Amerikaner, fünf Europäer, fünf Asiaten und fünf Neger. Dann, nach 80 Jahren, wird man vielleicht klarer sehen und der Vorsehung in die Karten gucken. Die Sache ist ja verwickelt: nannte man diesen Stern Venus, weil er der Liebesstern war, oder war er der Liebesstern, weil man ihn Venus genannt hatte? Und ebenso Mars, und ebenso Merkur, he? Dann, weiter: damit, daß alles mit allem zusammenhängt, und also auch die Sterne irgendwie mit den Menschen, muß man ja einverstanden sein. Warum beachtet man aber nur den allernächsten Stemenstaub unseres Planeten- Staubkornes und nicht auch die Milchstraße oder etwa die riesigen Spiralnebel? Die haben doch auch was dreinzureden. Aber gerade mit denen spießt es sich, weil unsere Intellekte und Teleskope nicht ausreichen ... Als ob sich die Sterne um unsere Teleskope kümmern! Bescheiden wir uns also mit der Erkenntnis, daß jedenfalls die Astrologie eine gesicherte Zukunft hat, zumindest solange Eitelkeit, Neugierde und Angst zu den dauernden menschlichen Beweggründen zählen. Die Astrologie ist bereits Anno Kopernikus zusammengebrochen, aber das tut nichts. Fatalismus war von jeher eine innere Krankheit Luropas und wird bei ieder Ueber- hitzun oder Erkältung des Glaubens aus diesem leicht herausgefällt. Denn natürlich will es so ein Wallenstein oder eine alliierte Heeresleitung wissen, wie’s ausgeht. (Der einzige, der wohl nicht nachgeschaut hat, war Stalin, aber dafür ist er ja auch auf Hitler hereingefallen.) Di Astrologen wollen auch leben. Sie sind unter einem günstigen Aspekt geboren. Ich bin überzeugt, daß sie von ihrer Sache überzeugt sind: das ist nicht Schwindel, das sind allgemeine Schwindelgefühle. Auch muß es eine schöne Empfindung sein, so am Schreibtisch zu sitzen und zu wissen, daß nächste Woche die Skorpione in ganz Zürich und den übrigen Weltteilen „mehr ihr Herz als ihre Vernunft befragen werden. Eine vergnügliche Vorstellung. Befrage ich aber mehr meine Vernunft, so muß man schon sagen, daß diese Weisungen aus der Sternensphäre überraschend banal sind: „Bleiben Sie zuversichtlich und guter Laune — Sie kommen voran", „Materiell eine Chance", „Lassen Sie sich ein schönes Erlebnis nicht entgehen“ — man sieht, die Konjunktion wird zur Konjunktur und es befestigt sich der Eindruck, daß Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun eigentlich Commis voyageurs des Weltenraumes sind. Ich glaube, das kommt daher, weil unser Planet Terra eine Banalität ausstrahlt, die auf die übrigen Gestirne nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Immerhin ist die Vorstellung, es könnte am Firmament noch einen Stern geben, auf dem etwa ein weiland „Neues Wiener Journal“ erscheint, strikte abzuweisen. Sollte es auf dem Sirius Astrologen geben, so dürften sie die Terra als den Stern der Angst und Banalität in Berechnung stellen. Ein fürchterlicher Stern. Schon ist er daran, Angstsatelliten und Banalitätsmonde ins All hinauszuschießen. Er hat zwei geographische Pole; auf dem einen steht ein Stock mit einer Flagge, auf dem anderen eine Bärin auf einer Eisscholle; zwei Magnetpole, die aber ständig hin und her zittern; und endlich zwei Pole der Angst — der des Westens und der des Ostens —, welche voreinander in Furcht schlottern und darum jeder möglichst viel Atombomben um sich gruppiert. Ein wunderbarer Stern, sofern noch ein Grashalm auf ihm wächst; ein erstaunlicher Stern, wenn man die Aether- wellen bedenkt, die von den beiden Angstpolen rastlos ausgesendet werden; aber welch banaler Stern, wenn man nun zuhört, was sie zumeist senden — wobei der andere Angstpol verzweifelt mit Br—Br—Br und Schweinegequieke dazwischenfunkt. Nicht Terra, heilige Erde sollte dieser Stern heißen — T e r r o r ist sein wahrer Name.

Und daher eben, wegen der Angst, gibt es die Astrologie. Auch ich schaue regelmäßig nach „Skorpion", was es diese Woche geben wird; nicht, daß ich daran glaubte, aber doch ... Eigentlich eine Dreistigkeit, so was, denn meinen Charakter bestimme i c h, man wird doch da sehen! Dennoch halte auch ich es zuweilen mit der Zukunft, aber nur mit der allernächsten. Und ich habe da einen Propheten, der schlägt jedes Horoskop an Präzision aus dem Felde. Mein Jesaias hält sich zumeist im Wartesaal auf, und wenn der „Schnellzug nach Olten, Bern, Lausanne, Genf!“ ruft, so kann man sicher sein, daß dieser Zug allernächstens abfährt. Und das Schönste — er kommt dann auch wirklich in Genf an! Auf meine Sibyllinischen Bücher ist Verlaß, denn sie verkörpern sich im amtlichen Kursbuch der SBB. Wenn da „Speisewagen bi Sargans' steht, so kann man schon den Zahnstocher in die Tasche stecken. Ist das nicht genug an Prophetie? Und im übrigen, sterben müssen wir alle, mit oder ohne Horoskop; wann aber - darnach zu fragen, sollte man sich hüten.

Wir haben unsere Welt mit Maschinen möbliert, und was die tun werden, wissen wir: jede Maschine ist ein Zukunftvorwegnehmer, denn sie trifft pünktlich in Genf ein. Aber der Witz ist, daß all diese Maschinen zusammen unsere Welt in eine so dämonische Unbestimmbarkeit gestürzt haben, daß wir die Zukunft weniger voraussehen können als zur Zeit der Postkutsche. Wohin wohin geht der Lauf? Jedenfalls zum Astrologen.

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