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Sigrid Undset: Schicksal und Werk

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Sigrid Undset, die am 10. Juni in ihrer norwegischen Heimat nach kurzer Krankheit im 68. Lebensjahr gestorben ist, wurde am 20. Mai 1882 in der dänischen Stadt Kalundborg geboren. In Dänemark — der Heimat ihrer Mutter — verbrachte sie die vier ersten Lebensjahre. Nach der Ernennung ihres Vaters zum norwegischen Staatsarchäologen nahm die Familie den Wohnsitz in Oslo. Im Jahre 1907 gab Sigrid Undset ihre beiden ersten Romane heraus, welche die Aufmerksamkeit der norwegischen Kritik auf die junge Autorin lenkten.

Ein Stipendium der Stadt Oslo gab der Undset die Möglichkeit, sich ihrer schriftstellerischen Berufung zu widmen. In Rom schrieb sie „Jenny“, das bedeutendste Werk ihrer Frühproduktion, ihr erstes Erfolgsbuch, wie die vorhergehenden Arbeiten voll von Berichten und Bekenntnissen selbsterfahrener Lebensproblematik. Ähnliche geistige Haltung zeigen auch ihre sonstigen Arbeiten bis zum Ende des zweiten Dezenniums unseres Jahrhunderts („Frühling“, „Frau Hjelde“, „Harriet Waage“). Eine Sonderstellung nimmt die Erzählung im altnorwegischen Sagastil ein, „Viga-Ljot und Vigdis“, Sigrid Undsets damals ästhetisch wertvollste Leistung und ein Vorklang der kommenden großen Prosaepopöen aus dem norwegischen Mittelalter.

In den Jahren 1920 bis 1922 entstand „Kristin Lavranstochte r“, ein Werk, welches seine Urheberin mit einem Schlag zur berühmtesten Dichterin ihrer Heimat machte. Durch die großen Erfolge der Übersetzungen des Werkes bekam der Name Sigrid Undset Weltruf, der sich durch das Erscheinen einer neuen, stofflich verwandten Dichtung, „Olav Audunssohn“, verstärkte. Im Jahre 1928 wurde Sigrid Undset durch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur geehrt.

Die außerordentlichen dichterischen Qualitäten der beiden Werke, Vergangenheitsbilder von unerhörter Lebendigkeit, Ehegeschichten, welche im Zusammenspiel und Widerstreit des Ewig-Weiblichen und Ewig- Männlichen die letzten Tiefen der be- glückend-schmerzhaften Beziehungen zwischen den Geschlechtern gestalteten, erklären allein noch nicht die weltweite Wirkung dieser Prosaepopöen. Die eigentliche Ursache ist bedingt durch die tiefe Sinngebung der Welt und des Menschentums, einer Sinngebung, die in engstem Zusammenhang steht mit der Tatsache, daß die Dichterin aus der Verworrenheit ihres bisherigen Daseins den Weg zu den Heils Wahrheiten der katholischen Kirche gefunden hatte. Auf diese Weise war Sigrid Undset imstande, durch das Mittel ihrer Dichtung vielen Menschen Trost und Lebenshilfe zu geben. Im Prosaepos vom Schicksal der „Kristin Lavranstochter“ berichtete die Dichterin die gewaltige und ergreifende Gesdiichte eines Weibes, das durch einen Wald von Sünden und Irrungen endlich den Weg zu der allumfassenden Gnade Gottes fand. Nichts beweist so sehr die Größe der Undset, als daß sie nicht nur auf alle legendarische Verklärung verzichtete, sondern jedwede Phase eines weiblichen Schicksals mit grausamer Wirklichkeitsnahe schilderte und es ihr gelang, in den furchtbaren Verstrickungen des erbsündigen Menschen den Gottesfunken zu finden und zur reinigenden Flamme der Gottesliebe zu entfachen. Auch in „Olav Audunssohn“ wird der Gang eines sündigen und doch seine jenseitige Bestimmung erfüllenden Menschen durch die bei aller Bresthaftigkeit beglückende Lebenseinheit nordischen Mittelalters dargestellt — diesmal ist es der Weg eines Mannes. Hier zeigt die große Verkünderin der Geheimnisse der Frauenseele ihr Wissen um das Abgründige im Manne, um seine Irrungen, seine Sühne- und Heilungsmöglichkeiten. Wie in „Kristin“, so steht in „Olav“ über dem Jammer und Elend dieser Welt sinngebend der funkelnde Sternenhimmel Gottes, welcher der Dichterin furchtbares und schöpferisches Erlebnis ist.

In der Folgezeit erschienen mehrere stofflich der Gegenwart angehörende Romane, in denen sich Sigrid Undset mit dem von ihr schmerzlich erlebten Eheproblem auseinandersetzt. Es sind dies die Büch :r „Gym- nadenia“, „Der brennende Busch“, „Ida Elisabeth“ sowie „Den trofaste hustru“

(„Das getreue Eheweib“). Diese Werke, die mit rücksichtslosem Realismus Alltagsleben mit seinen Mühseligkeiten und Schmerzen, mit seinen Enttäuschungen und Bitternissen schildert, verharren letzthin nicht in der Darstellung nur allzu wahren Familienjammers und allzu menschlicher Fragwürdigkeit, sondern geben auch echte Sinndeutung. Dadurch erheben sich auch diese Bücher in den Bereich großer, welt- anschaulidi fundierter Kunst.

Seit 1910 hat sich Sigrid Undset gelegentlich als Essayistin betätigt — ohne freilich in dieser Hinsicht den gleichen Rang erreichen zu können, den sie als Erzählerin einnimmt. Zwei Bände sammeln ihre einschlägige frühe Produktion, das Buch „Etapper“ (dessen wichtigster Beitrag ein großer Aufsatz über die drei Schwestern Bronte, die bekannten englischen Schriftstellerinnen im 19. Jahrhundert, ist) und die heftige Attacke gegen den Feminismus „Et kvinde-synspunkt“. Der katholischen Epoche der Dichterin gehört der zweite Band von „Etapper“ an, eine Reihe biographischer Darstellungen von Heiligen und anderen Trägern katholischer Frömmigkeit. Der Grundtenor dieses Buches — aus dem der Essay über die heilige Angela Merici verdeutscht vorliegt — wird gekennzeichnet durch den abschließenden Satz der Einleitung: „Die sektiererische Animosität gegen den Heiligenkultus ist eine der Ursachen, weshalb das Christentum als eine Religion der Furcht und nicht als eine Religion des Mutes dargestellt werden konnte.“ Ein weiterer Essayband sammelt in Zeitschriften verstreute Arbeiten: „Selvportretter og landskapsbilleder“ beschäftigen sich teils mit erlebten Landschaften, teils mit literarischen Persönlichkeiten der Gegenwart (unter anderem D. H. Lawrence) sowie mit Problemen der englischen Geschichte und einer kritischen Widerlegung spiritistischer Bestrebungen. Als Buchveröffentlichung erschienen außerdem in deutscher Sprache Essays über Christentum und Germanentum „Begegnungen und Trennungen“.

Seit 1919 lebte Sigrid Undset auf ihrem großen Hof in Lillehammer, im Zentrum Norwegens, im Gudbrandsdal. Ihren schweren Arbeitstag teilte sie zwischen der Führung eines großen Haushalts, der Pflege eines ihrer Kinder, das gelähmt war, und umfassender literarischer Produktion. Die Okkupation Norwegens vertrieb die Dichterin aus der Heimat. Es waren nicht sy sehr die im Gudbrandsdal sich vollziehenden Kampfhandlungen (denen einer der Söhne von Sigrid Undset zum Opfer fiel) wie die Nachstellungen der Gestapo, welchen sich die. Gegnerin des Dritten Reichs durch Flucht entziehen mußte. Auf die Emigration nach Schweden folgte Niederlassung in Amerika, in New York. Von den Erlebnissen auf der Flucht und der langen Reise über Rußland und Japan erzählt das Buch „Return to the future“. Während der Emigration trat Sigrid Undset selten literarisch hervor. Am bekanntesten ist ihre Beteiligung an dem Sammelwerk „The Ten Commandments“. Über dieses Buch, das nicht nur in englischer, sondern auch in mehreren anderen Sprachen veröffentlicht wurde, sagt Thomas Mann in der „Entstehung des Doktor Faustus“ folgendes: „Die Idee war moralisch-polemisch. Zehn international bekannte Schriftsteller sollten in dramatischen Erzählungen die verbrecherische Mißachtung des Sittengesetzes, jedes einzelnen der Zehn Gebote behandeln …“ Ende Juli des Jahres 1945 kehrte Sigrid Undset in die befreite Heimat zurück. Wider Erwarten trat sie seither literarisch nicht mehr hervor, wenn man von dem kleinen, im Oktober 1945 geschriebenen polemischen Aufsatz über die Umerziehung der Deutschen absieht, auf den Karl Jaspers in einer im gleichen Jahr im Konstanzer Südverlag verschienenen Broschüre antwortete.

Unter der Voraussetzung, daß sich im Nachlaß der Dichterin nicht etwa bedeutende unveröffentlichte Arbeiten befinden, kann man als den letzten großen Roman „Madame Dorthea“ (1939) bezeichnen, der neuerdings in der Schweiz verdeutscht vorgelegt wurde. Man hat den Eindruck, als begänne mit diesem Werk eine neue Phase in der künstlerischen Entwicklung der Erzählerin. Sie gestaltet einen Stoff aus der Vergangenheit, diesmal aus der Zeit des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts. Es muß dahingestellt bleiben, ob der Roman als selbständiges, das heißt in sich abgesdilos- lenes Werk oder als Anhub zu einem Zyklus aufzufassen ist — also auf die Formgebung der Prosaepopöen von „Kristin“ und „Olav“ zurückgreift. Sofern die erste Auffassung zutrifft, kann man das Buch als eine von prachtvoller Menschengestaltung erfüllte, die Atmosphäre des ausklingenden norwegischen Rokokos und weltferne Waldstimmung eindrucksvoll wiedergebende Darstellung der äußeren und inneren Schwierigkeiten einer sehr vitalen Frau charakterisieren. Für eine andere Auslegung spricht die Vignette auf dem Umschlag der norwegischen Ausgabe des Werkes: ein auf einem Totenschädel sitzendes Kind läßt Seifenblasen in die Luft steigen. Der Roman hätte demgemäß aller Wahrscheinlichkeit nach eine Art höchst realistischer Allegorie der Unbeständigkeit des dauernd sich erneuernden und immer wieder in die Vergänglichkeit mündenden Daseins werden sollen. Von außen her betrachtet tritt in dem von bewunderungswürdiger epischer Kraft erfüllten Buch das Religiöse zurück. In Wirklichkeit jedoch gibt es letzthin den sinngebenden Horizont. Vermutlich kg es in der Intention Sigrid Undsets, durch den weiteren Bericht von den Schicksalen der Frau Thestrup eine weltanschaulich gerichtete Dichtung 2u schaffen.

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