Skeptische Flaschenpost

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Vor 50 Jahren verfasste der niederländisch-flämische Maler, Journalist und Schriftsteller Louis Paul Boon seinen wichtigsten Roman. Nun kann man ihn erstmals vollständig auf Deutsch lesen.

Louis Paul Boons Roman "Der Kapellekensweg" ist ein Klassiker der modernen niederländischen Gegenwartsliteratur. Wenn ein Klassiker erst spät übersetzt wird, dann bekommt das Werk etwas von einer Flaschenpost aus einer anderen Zeit. Mit Klassikern ist das aber so eine Sache. Wann kommt ein Rezensent schon in die Lage, einen Klassiker besprechen zu können: Selten, wenn er nicht gerade prominent ist und gefragt wird, was er gerade liest und zwei, drei Sätze absondert. Die Zeiten, als jeder Zweite "Der Mann ohne Eigenschaften" las, sind längst vorbei. Ein Klassiker ist also im Tagesgeschäft ein seltenes Ereignis, denn wer weiß heute schon, was ein Klassiker wird.

Wie würden James Joyce und Robert Musil heute besprochen werden, wenn ihre Namen noch keinen ehrfurchtsvollen Klang hätten, wenn sich ihre Werke zwischen den vielen leichtlebigen Neuerscheinungen zu behaupten hätten? Mit den Klassikern ist das so eine Sache und die Sache hat auch mit Angst zu tun. Klassiker im Unterricht zu lesen und für eine Prüfung parat zu haben ist eines, sie zu beurteilen und die Ungewissheit, ihnen auch gerecht zu werden, eine andere.

Kein Nobelpreis

Im Jahr 1953 hat der in Ostflandern geborene Maler, Grafiker, Autolackierer, Journalist und Kommunist Louis Paul Boon sein wichtigstes Werk, den Roman "Der Kapellekensweg" verfasst, vollständig übersetzt wurde es erst 2002, mit Jahrzehnten Verspätung also. Boon, der 1979 starb, ist hierzulande wohl wenig bekannt, er hat den Nobelpreis nicht bekommen, obwohl er als aussichtsreicher Kandidat galt. Um sich die Dimension der verspäteten Begegnung so richtig vor Augen zu führen: Boon hat seinen Roman geschrieben, als Belgien noch Kolonien hatte, als die Befreiung vom Kolonialismus noch eine Zukunft war, als es noch gesellschaftliche Illusionen gab, die Zerstörung derselben durch Parteidiktatur noch frisch und die Toten der Säuberungen noch nicht verwest waren, die Parteizensur in linken Blättern zum Kleinkrieg gehörten und ein Dritter Weg noch zu projektieren war.

Erzählfluss mit Nebenarmen

Boon hat seinen Roman geschrieben, als der Kanon des Geschichtenerzählens schon längst nicht mehr Sache eines autokratischen Erzählers war, aber jedes Land hat die Aufgabe, seine Autokraten zu Fall zu bringen. Für die Niederlande hat er es übernommen. Demokratie ist Gespräch und bei der Geschichte um das kleine Mädchen Ondine im Kapellekensweg reden eine ganze Menge Leute mit, geben ihre Ratschläge, zeigen Unzufriedenheit, wissen es besser. Da wären der Journalist, der Schulmeister, die Malerin, ein Vertreter des Ministeriums, um nur einige zu nennen. Keine einfache Sache für den Leser, denn der Erzählfluss teilt sich in fast drei gleichstarke Nebenarme auf und das auf fast 600 Seiten. Dass dabei nichts versiegt, ist schon eine Leistung. Neben der Geschichte von Ondine gibt es die Zweifel anmeldenden Zeitgenossen und die oft nur schwer zu lesenden Reinaert-Episoden über den gerissenen Fuchs, die ebenfalls die Möglichkeit zu einer Gesellschaftskritik bieten.

Gesellschaftskritik

Ondine ist keine Paradeproletarierin, die am Beginn des vorigen Jahrhunderts die sozialen Ungerechtigkeiten, die Armut und männliche Besitzansprüche erlebt. Sie fühlt sich mehr zu den besseren Herren hingezogen und gibt ihnen in ihrer Naivität nicht nur auf dem Schoß sitzend Ratschläge, wie zum Beispiel die Bildung einer Gewerkschaft verhindert werden könnte.

Das Buch ist eine Büchse der Pandora, in der die großen Krankheiten und Leiden des vorigen und des aktuellen Jahrhunderts zu finden sind. Als Dosenöffner ist Beständigkeit für den Leser zu empfehlen und mit dem entsprechenden langen Atem blickt man auf den Grund, die Grundsätze: Kann mit Büchern über die Welt von heute etwas ausgesagt werden, wo doch schon so viele Bücher miss-verstanden worden sind? Ist das Schöne und Erhabene nur mehr eine Lächerlichkeit?

Jede Menge Zweifel

Jede Menge Zweifel an der Natur des Menschen, an dem Guten im Menschen stehen in diesem Buch an der Tagesordnung und nicht zuletzt die quälende Frage über die Möglichkeit zu erzählen, wie das Leben wirklich ist. "z.b. einen Roman, in den du alles holterdipolter reinkippst, platsch, wie einen Bottich Mörtel, der vom Gerüst fällt, + nebenbei und zudem dein Zögern und deine Zweifel im Hinblick auf Sinn und Nutzen eines Romans, + außerdem und darüber hinaus etwas, das du als die Reise vom Nihilismus zum Realismus bezeichnen könntest - hin und zurück, 3. Klasse -, denn heute gibt es noch Hoffnung, daß aus der Welt noch etwas werden könnte, doch morgen wird diese Hoffnung wieder zurück in den Grund und Boden gehämmert ... und außerdem könntest du noch Randbemerkungen einfügen, plötzliche Einfälle, nutzlose Umschreibungen, verkappte erotische Träume und sogar Zeitungsausschnitte ..." Eine zentrale Passage, die den Hang zum Spiel mit der Sprachen in all ihren Facetten und grafischen Elementen andeutet.

Skeptisch

Boon schrieb seinen Roman, als es noch die Möglichkeit für Illusionen gab, dass er trotzdem skeptisch geblieben ist, macht dieses Buch nicht gerade zu einem Sonntagsvergnügen, doch das haben Wahrheiten manchmal so an sich. "und die wenigen Menschen, die wirklich Menschen sind, leben wie exotische Blumen auf dieser Fäulnis ... wie Orchideen auf der modernden Baumstämmen ... sie leben und blühen dort, können aber an den herrschenden Tatsachen nichts ändern, denn sie selbst stecken mit ihren Wurzeln in dieser Fäulnis ... sie selbst sind Produkt dieser Fäulnis ... sind Kinder des Verfalls, ein Irrtum und eine zynische Laune der Natur, die hin und wieder aus dem stinkenden Misthaufen eine wunderschöne Blume erblühen läßt."

Der Kapellekensweg

Oder der 1. illegale Roman von Boontje

Roman von Louis Paul Boon, Aus d. Niederländ. u. Nachw. v. Gregor Seferens

Luchterhand Verlag, München 2002

575 Seiten, geb., e 26,80

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