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Sommerfrisclie

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Wir gehen unbedingt in die Sommerfrische. Oder wir möchten unbedingt in die Sommerfrische fliehen. Wir werden (oder würden) sie auf uns nehmen mit allen ihren Schönheiten und Unbequemlichkeiten, mit all dem, was sie uns bieten wird: wir werden warten (oder würden warten) auf alles, was möglichst wenig Arbeit und Geld von uns fordert und möglichst viel Vergnügen bereitet ... So ungefähr sind die heimlichsten Wünsche beim Gedanken an die Sommerfrische.

Haben Sie aber schon einmal über das Hotel nachgedacht. Ich meine jetzt nicht dieses oder jenes bestimmte Haus, sondern „Hotel“ ganz allgemein und immer ... ? Was das ist?

Zunächst ein Fremdwort. Deutsch würde man sagen: Gasthaus, Herberge oder, übrigens ein schönes Wort: „Bleibe." Dann ist ein Hotel also meine Wohnung für einige Tage oder einige Wochen: dort werden wir schlafen, essen, trinken und dorthin werden wir „heimkommen". Im Hotel hat jeder ein oder zwei Zimmer. Man kommt als Nachfolger, denn vor uns waren schon viele in „unserem Zimmer“; man kommt auch als Vorläufer, weil nach uns noch unzählige dort wohnen werden, wo wir nun wohnen. Dann richten wir uns ein: Kleider aller möglichen und unmöglichen Arten, Toilettegegenstände vom Selbstverständlichen bis zum Unverständlichsten, Bücher vielleicht, Spielsachen für die Kinder und so weiter — bis es einigermaßen „unser Zimmer“ wird. Aber: trotz alledem bleibt das Zimmer uns fremd; wir bleiben in „unserem Zimmer“ dennoch zu Besuch. Vielleicht weil es viel Vornehmer ist als unsere Wohnung des Alltags; vielleicht weil es „primitiver“ ist als unser eigentliches Heim.

Und dann sind die Nachbarn da: unbekannte Menschen, von irgendwoher zusammengeströmt; man wird miteinander bekannt, man freundet sich mehr oder weniger an; man geht auseinander, meist ohne sich jemals wiederzusehen (wenn man sich nicht gerade verlobt hat!) — denn im nächsten Jahre gehen wir irgendwo anders hin und der Nachbar auch, und die Welt ist weit! Bei Tisch treffen wir uns: das gemeinsame Mahl ist wichtig seit alters und nichts verbindet die Menschen so sehr als der gemeinsame Tisch. Wir treffen uns bei Kletterpartien, am Strand in Luft und Licht und Sonne und manchmal auch im Wasser, beim Tanz und sonstwo. Je größer unser Kurort, um so mehr Menschen sind dort um uns; je kleiner unser Kurort, um so enger sitzt man beieinander.

Das habe ich eben gegen das Hotel einzuwenden: daß wir niemals allein sind. Das liegt nttht am Hotelbesitzer und nicht an der Kurverwaltung, sondern am Wesen des Hotels selbst, das geradezu darin besteht, gegen die Stille und die Einsamkeit zu sein! — Und vielleicht hätten wir doch nichts so nötig, als diese Stille nach dem alltäglichen Lärm und die Einsamkeit nach dem Betrieb der Arbeitswochen. Gewiß sind andere Menschen um uns und bedeuten als solche schon Abwechslung und Entspannung. Aber wo Menschen zuhauf sind, ist notwendig Lärm, ist notwendig auch Betrieb: da ist „etwas los" und dort etwas anderes, heute dies und morgen jenes.

Es wäre entschieden etwas Neues, wenn sich eine Kurverwaltung einfallen ließe, einen „Tag der Stille“ oder gar eine „Woche der Stille“ einzuführen. Es dürfte an diesem Tage gar nichts geschehen: die Gäste müßten schweigen und dürften nur das Allernotwendigste leise miteinander besprechen; keiner sollte zuviel essen und erst recht nicht zuviel trinken dürfen; es gäbe weder Radio noch Kurmusik noch Tanz und dergleichen Betrieb; keiner dürfte sich mehr als 200 Meter vom Hotel entfernen. Alle sollten irgendwie wenigstens faulenzen und — einander einmal einen Tag in Ruhe lassen, sowohl mit Freundlichkeiten wie mit Grobheiten: ein Tag Schonzeit.

Ich fürchte aber, daß so etwas einmal und nicht wieder veranstaltet würde: weil nichts schwerer ist als Stille und Einsamkeit. Nach einer Stunde „Sonnenkur" mörhten wir un bedingt etwas sagen dürfen, wenn auch nur ein geseufztes: „Wunderbare Sonne, das?!“, oder: „Wieviel Uhr hast du?“ Morgens ließe es sich vielleicht noch ertragen. Vielleicht auch noch nach dem Essen. Bis 18 Uhr würde es uns sehr, sehr schwerfallen. Nach 18 Uhr wäre es beinahe unmöglich: denn abends wird der Mensch gesellig und gesprächig, er wird irgendwie „reif“.

Das liegt nicht daran, weil die Kurverwaltung gegen Abend die Veranstaltungen bietet, sondern sie bietet diese geselligen Vergnügungen, weil der Mensch abends dazu „aufgelegt“ ist. Der moderne Mensch braucht abends einfach seinen „Betrieb“: wenigstens muß er sprechen.

Haben Sie aber schon bemerkt, daß Sie dann Selbstgespräche halten? Denn Ihr Nachbar will ja auch selbst sprechen. Sie hören sich gar nicht gegenseitig an. Wenn ich von Wien eine Erinnerung auskrame, dann antwortet mir mein Liegestuhlnachbar mindestens über Paris — weil er Wien nicht kennt und sich nicht für mein Wiener Erlebnis interessiert. Und haben wir einmal etwas Gemeinsames gefunden, dann geht es wieder aneinander vorbei: Ich erzähle vom Schloßberg in Freiburg und mein Nachbar antwortet vom Lorettoberg bei Freiburg. Wir halten einfach jeder ein lautes Selbstgespräch und — sollten nur den Mund halten.

Würden wir schweigen, so käme die abendliche „Reife“ nicht als eine Erinnerung aus uns heraus und verflöge ungehört, sondern wüchse tief in uns hinein als ein Erlebnis; wir würden reifer Werden iih Schiveigen und würden 'ihelif

K TJJI nsnrißi xiw inn ites iifrt wir selbst — denn wir würden selbst „frisch“ in den sommerlichen Abenden des Schweigens und der Stille.

Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn die Kurverwaltung sich weigern sollte, einen „Tag der Stille“ einzuführen, dann halten Sie ihn selbst! Schicken Sie Ihre Kinder und Kindeskinder an den Strand oder auf die Berge hinauf; sagen Sie Ihren Freunden und Bekannten, Sie hätten heute „Arbeit“ und bedauerten .. . und so weiter. Dann bleiben Sie einen lieben, langen, sommersonnigen oder regenschönen Tag auf Ihrem Zimmer; tun Sie nicht viel, schlafen Sie nicht zuviel, lesen Sie nicht, vor allem keine Zeitungen oder Geschäftsbriefe, langweilen Sie sich ein wenig — aber bleiben Sie still und einsam und denken Sie — aber auch nicht zu vielerlei, sondern denken Sie einmal mit Ruhe und viel Stille. Aber ich warne Sie im voraus: beim ersten Versuch werden Sie um 11 Uhr abbrechen, beim zweiten vielleicht erst um 16 Uhr, beim dritten wird es mit knapper Not gehen, beim vierten Versuch werden Sie sich freuen — dann ist die Sommerfrische ein Erfolg! In der Stille und Einsamkeit strömt die Frische unseres eigenen Lebens neu und stark in uns — jenes Leben, das im Lärm und im Betrieb nicht leben darf . .. Die Sommerfrische mit einem „Tag der Stille" — na, versuchen Sie es einmal. Ob Sie etwas vom lebendigen Leben in sich spüren, das schon lange auf Ihre Stille gewartet. hat ... ?!

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