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Sommergang für einen Verstorbenen

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Nahe dem Wald gehen wir eine Zeile machtvoller Kirschkronen entlang. Plötzlich gerät Unruhe zwischen die breiten, glattgerundeten Stämme. Farbig fällt es gegen das Gras, schwingt empor zum nächsten Baum, unterteilt aber die Bogen von Krone zu Krone in kleine wiegende Schwünge. Zwei Wiedehopfe fliegen Doppelgirlanden, immerzu vor uns her und immerzu auf gleiche Entfernung vom nächsten Kirschbaum ab. Weil wir nur auf sie sehen, brauchen wir einige Zeit, bis wir ihnen dahinterkommen. Hoher Sommer ist, aber oben in den Bäumen hängen noch viele Kirschen, die süßesten. In den erdigen Radgleisen liegen die Ueberreifen wie schwarzes Blut. Sie aufklauben ist Zerfließen zu erregender Röte. Das Spiel geht weiter. Halten wir naschhaft, verharren in der Köstlichkeit der Zweige auch die Vögel.

Der Wald ist junger, heiterer Busch, und zwischen herbem Grünen stehen in stattlichen Gevierten mädchenschöne Botinnen aus dem Baltenland, Birken. Breit ist der Weg, Lichtungen öffnen die Wände, und bald näher, bald ferner blitzt das milde Weiß der stillen Stämme. Geruhsame Parklandschaft bedeckt das Plateau. Es fehlen uns nur Pferde und Herrengewänder.

Die letzte Birke verleuchtet. Die unruhige Kuppe ist zur Hälfte Föhrenwald, zur Hälfte freier Steppenhang. Kindhaft weißer Windung überklettert Gras und Schutt, eine stichrote Steinnelke, Einsame unter Rasenschöpfen, glüht ziervolle Zartheit. Graugrünes Föhrenreis dörrt wohlig, fuchsrote Rindenschollen glimmen. Eine Pfeilspitze Waldtauben stößt aus dem Gehölz hinab ins früchtige Land. Vielfacher Flügelschlag klirrt metallisch fein. Auf der Steinnelke spreitet wie Atemschläge ein Admiral sein prunkendes Brokat, und steil vor uns kreist vollendet ein Bussard, traumhaft langsam, als bade er im Teilchen der Sekunde. Talunten wird eine Phrase ursprünglich sinnhaft: Es ist knapp vor dem Schnitt, und das heiße Jahr reifte fast alles Korn zu gleicher Zeit. Vom schattenden Waldfuß bis hinüber zu den weinhellen Küsten der mährischen Grenze, von der dunklen Manhartsschwinge bis hinunter in den ungarischen Wind leuchtet ein goldenes Meer, schimmern raffende Golfe und Buchten. Inmitten der glühenden Macht gleiten dicht-gezeilt schmale Inselriffe, rote Kirchspitzen und baumgrüner Flaum. Von jedem Riff zieht eine schmale dorflange Baumbrücke nordwärts zum Weinbergstrand, weißgrüne Kelkr-triften.

Ein Kanon nimmt uns auf. Fast senkrecht steigen die Wände. Bloß die bunten Farbstreifen fehlen. Die Wände sind satt ockergelb und nur ab und zu gequert von fahlen Sandbändern. Rüstige braune Wurzeln, fesseldick oder gertenhaft, liegen am Licht. Wie Flüssiges träufen filzgrüne Spitzen bis auf den Weggrund. Zeichen ätzender Rinnsale. Tiefe Radgleise sind, eingefahren, gelb wie alles Erdreich. Aus Wald und Weinbergen brechende Gewitterbäche haben oft die Sohle bis hart an die Radspur aufgerissen. Wagen könnte man in die Gruben stellen. Teile der ockergelben Fluchten haben sich gelöst. Wie Gesteine zu Blöcken geborsten, liegen die Trümmer. Plötzlich ist in die Wand eine lotrechte schmale Schlucht gerissen. Ein Regengießbach hat den gelben Kanon im rechten Winkel getroffen und ihn angenagt bis hinunter. Oben, hinter Robinienwolken und Nußbaldachinen, liegen links und rechts Weingärten. Wir können sie nicht sehen, aber wissen, wo der eine endet und der andere beginnt'. Jeder Rain stößt rechtwinkelig auf den Kanonbruch, und die Regengüsse verwandeln die Raine im Anfang zu Wasserspeiern, darnach in schürfende Gewalten. Dutzende Male zu beiden Seiten ist jede Hohlwegkante ein-eesäst. Unsichtbare Zähne reißen ins Breite

und Tiefe, der Lößklotz dazwischen wird schmaler, sein Stand ausgesetzter und einmal — im Sommergewitter — stürzen die Blöcke ab, und Brüche und Kanten schimmern unten wie neues mildes Gold. In Jahrmillioncn werden die Weinberge von den Kanons überwältigt sein. Berg und Tal werden zuein-anderkommen und sich schließen zu einer landweiten Lößplatte.

Wir sind froh, daß uns die Jahjrnillionen fernbleiben wie alles Vierteilige. Der kühle Hohlweg wird tiefer, dunkler. Der grüne Nuß- und Robinienhimmel über uns weicht zurück. Die Goldwände schwelen, die Sandstreifen bleichen wie Knochen, die traufdunklen Rinnsale erstarren zu krankhaftem Fluß. Plötzlich brennt reglos ein schräger Schaft, festgerammt in grünem Laub und glimmendem Ocker: schmaler Sonnenpfahl, gebannt ins Zwielicht. Als wir der dunkelnden Klamm entsteigen, ragen im verblaßten Tag vor Untergang zwei sternhohe karmesinrote Flammentürme.

Tausend Büsche wirft uns der alte Laubwald entgegen und ein Aroma, das nur von seiner Schattenmacht, von der Vielfalt seines Geblühs und von der tauigen Erde kommen kann. Eine Lichtung nehmen wir noch wahr, blau-goldgelb übersponnen von Rand zu Rand: Wachtelweizenhymnus, schwelgend, fast gewalttätig, dann verfärben sich Blätter und Zweige, und an der Waldstraße stehen Pappeln, Rüstern, Buchen und Eichen im Schwarz der Nacht. Dunkles Vibrieren, schwere Tremoli sind in der Luft. Welle an Welle stößt heran, schüttert an uns vorbei und verbrummt lastend dumpf.

Ein Hund meldet und wir kehren zu. Geweihe, grellkolorierte Weidmannsbilder, Imbiß und Scherzwort herbergen uns vertraut. In drei Gläsern bricht sich — im Lichtfeld der Lampe — jener Funke, der als magischer Schaft brennend im Hohlweg stand, oben aber auf freiem Löß im Fächerblatt der Traube sich raffte und unter der Glätte der Beere baute und sott.

„Guten Heimweg!“ sagt der Heger.

„Gute Nacht im Wald!“ sagen wir.

Weil es wohlschmeckender Roter ist, spricht der Gefährte nach dem halben Glas Conrad Ferdinand Meyers „purpurprangende Veltlinertraube“. Da verrate ich mich fast, denn das Geheime brennt mir an der Zungenspitze.

Den Heimweg überschlingt Finsternis. Himmel und mährische Grenzhügel verfließen ineinander, und wenn die Lichtreihen der fernen fünf Kellertriften nicht so sehr parallel und auf gleicher Höhe nordwärts zögen, könnte sie ein Einfältiger für Sternbilder halten.

Nun ist es Zeit für meine Süchtigkeit nach vollendeter Freude, Zeit für das Staunen.

„Egon“, sage ich nach vorne, „hier bei uns ist Heinrich Suso Waldeck Kaplan gewesen.“

Der Freund wendet und wir halten. Seine UeberraSchung ist so groß wie meine gewesen war, als ich das Unvermutbare aus bloßem Zufall erfahren hatte. Wir freuen uns sehr. Während ich erzähle, besinnen wir: Bei den Baumgartner-Leuten war er oft zu Gast. Der Regelsberger-Vater war sein Ministrant. Schade, daß wir damals noch nicht zur Schule gingen! Und schade, daß wir den Hergang nicht wußten, als er noch lebte!

Zu unserem Eintreffen ruht der Ort im todmüden Bauernschlaf. Jedes Haus wehrt uns aus dem Dunkel ab, ein Wall, der bedrohte Menschen birgt. Zwei, drei Hunde schlagen verdrossen an, irgendwo schreit wie mürrischer Zorn ein Käuzchen.

Nur in unserem Fenster steht dann Licht. Wir wenden Blatt um Blatt und wie Jünglinge lobpreisen wir des Künstlers scharf-gerandete Siegel: die kantige Plastik der Menschen Und Dinge, die geballte Raffung des Wortes, den geheimnishaften Glanz reimloser

Rhythmen und die kostbare, herrliche Ab-sichtslosigkeit und Verborgenheit der Reime. Lang nach Mitternacht fragen wir, was er Wohl von uns mitgenommen haben mag in seine meißelscharfe Schöpferschaft: den Far-bengesang der Weinberge und Kornweiten, die spornende Sänftigung des Bechers, trotzige

Daseinslust und Irrgründe der Menschen? — Gewiß standen wir in jenen Versen, die im Bösen, Guten und Anmutigen um das Dorf wissen, auch der Heimat gegenüber, und es hatte dazugehört, daß wir sie vor der Begegnung gesucht hatten an einem ihrer schönsten Tage.

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