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Sonderbare Spiralen

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Spirale — Roman einer schlaflosen Nacht. Von Hans Erich Nossak. Suhrkamp- Verlag, Frankfurt am Main. 372 Seiten

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Spirale — Roman einer schlaflosen Nacht. Von Hans Erich Nossak. Suhrkamp- Verlag, Frankfurt am Main. 372 Seiten

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„Ein Ereignis”, heißt es am Anfang, „hat einen Mann schlaflos gemacht. Er müht sich, sein Leben zurück und zu Ende zu denken; mit verteilten Rollen hält er Gericht übet sich, klagt sich an, verteidigt sich und versucht sich zu begnadigen, um endlich Ruhe zu finden. Doch immer, wenn die Spirale seiner Gedanken in den Schlaf absinken will, stößt sie an andere Bruchstücke seines Lebens und wird von neuem in das unerbittliche .Zwielicht der Schlaflosigkeit hochgerissen.“ Danach könnte man vermuten, es sei einer schuldig geworden und versuche den Ursachen seiner Schuld nachzugehen, aber weder in der ersten noch in der zweiten „Spirale“ nimmt einer Schuld auf sich; denn was als Schuld erscheinen könnte, schiebt er den anderen zu, und in der dritten „Spirale“ wird alles unfaßbar und entgleitet ins Ambivalente. Das kommt davon her, daß Nossak es nicht mit dem gesunden, sondern mit dem ungesunden Menschenverstand zu halten scheint und es darauf abgesehen hat, auf krummen Linien gerade schreiben zu wollen. Man hat den Eindruck, es mit Schizoiden zu tun zu haben und in Wahnsysteme hineingezogen zu werden, aus denen es keinen Ausweg mehr gibt. Der Angeklagte in „Spirale III“ ist ein nervenaufreibendes Individuum, das jeden Richter zur Verzweiflung bringen könnte. Das sektierer- haft Moralische dieser Figur wirkt leicht verrückt, und statt vor Gericht scheint er in eine Nervenheilanstalt zu gehören. Der Student in „Spirale II“ ist wie ein Hebephrener, der eine Suada von Absurditäten von sich stößt. Man fühlt sich lebhaft an Jugendliche erinnert, die im Zustand hebephrener Erregung „philosophisch“ werden, mit 'hochtrabenden Phrasen tim sich werfen, sich für ein Genie und andere für Idioten halten. Auch der Achtzehnjährige in „Spirale I" ist nicht normal (obwohl er die Grenze des Erträglichen noch nicht überschreitet), traumatisch verletzt und hochgradig introvertiert. Man fragt sich, was Nossak mit solchen Gestalten denn eigentlich will. Sie sind weder paradigmatisch noch entzifferbar, nur Aufsehen erregend, sonderbar und aus dem Rahmen fallend. Und sie beweisen nichts; sie sind abnorm, in den Proportionen verschoben und zeigen affektiv betonte, sinnlose und unangepaßte Reaktionen.

Auf dem Grund dieser „Spiralen“ mottet Empörung, das wird klar. Es wird mit den Zähnen ge-

knirscht gegen Kultur, Gesellschaft, Haus, Heim und Domestikationsversuche und vor a'llem gegen das, was Nossak das „Versicherbare" nennt. Das ist zwar ein altes Lied und man hat es schon oft gehört, aber man würde es wieder mit Aufmerksamkeit anhören, weil die allerneueste Literatur wieder darauf hintreibt und allerlei Fluchtversuche ins „Nichtversicherbare“ unternimmt, wenn Nossak sich dazu verstehen könnte, uns andere Figuren vorzusetzen. Aber weil er sich darauf versteift, uns mit Halbverrückten ins Gespräch zu bringen, lehnen wir dankend ab. Mit Unzurechnungsfähigen wünschen wir den Zustand der Welt nicht zu erörtern und abnorme und mit der Zirbeldrüse konstruierte Fälle sind für uns nicht maßgebend und diskutierbar. Zu viel ist hier zu wenig.

Wenn man sich beispielsweise die puerile Philosophie etwas genauer ansieht, die ein Student (in der zweiten „Spirale") vor einem anderen Studenten auspackt, dieses Gemisch aus Albernheit und Hybris, dann hört das Diskutieren auf, sobald man sich darüber klar wird, daß hier keine Philosophie vorliegt, sondern das wahnhafte Gerede eines Kranken. Außerdem ist noch zu sagen, daß in dieser zweiten „Spirale“ etwas mit unzureichenden Mitteln versucht worden ist? denn auf seinen Plan reduziert, entpuppt sich das Ganze als eine variierte Paraphrase der rilkeschen Legende vom verlorenen Sohn. Nun — nichts gegen Anleihen bei der Weltliteratur; auch die Dichtung lebt vom Austausch der Stoffe und Themen. Aber hier wird das Epigonische zu weit getrieben. Ein Gide konnte es wagen, Rilke variierend zu paraphrasieren; Nossak aber hat sich nur vergriffen, Rilke mißverstanden, unkongenial vergröbert und aus einem schwierigen Thema ein verrücktes Studentengeschwätz gemacht. Die Legende vom verlorenen Sohn (nach der rilkeschen und nicht nach der biblischen Weise) ist hier auf die Hintertreppe geraten und banal geworden. Mit dem Spürsinn für das Aktuelle ist es eben noch nicht getan.

Das verschüttete Antlitz. Roman von Gertrud Fußenegger. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. 343 Seiten. Preis 15.80 DM.

Die in Pilsen geborene, seit langem in Tirol lebende Dichterin hat uns bereits eine Reihe be deutsamer Prosawerke geschenkt, deren Schauplatz zumeist Böhmen oder Tirol ist. In ihrem neuen Roman wendet sie sich wieder ihrer böhmischen Heimat zu. Die vielfältig miteinander verflochtenen Schicksale von Menschen dieses Landes aus der Zeit vor der Jahrhundertwende bis zum Ende des letzten Krieges werden in einer Handlung von starker innerer Spannung erzählt.

Hauptfigur ist der Arzt Viktorin Zeman, der von einem tschechischen Vater und einer deutschen Mutter stammt und schon frühzeitig die Zwiespältigkeit seines Wesens erlebt und erleidet. Das Dunkle und Triebhafte bricht immer wieder in ihm durch. Der Roman setzt zu dem Zeitpunkt ein, da Zeman unter Mordverdacht in Haft genommen wird. Und nun erzählt die Autorin mit ausgezeichnet beherrschter Technik seine Lebensgeschichte und die der Menschen, denen er begegnet. Noch ein Knabe, erfährt er bereits die Tragik des Schuldlos-schuldig- Seins, und trotz seines guten Willens lösen seine Flandlungen schwere Konflikte aus. So wird er dem Freund, dem alten Ehepaar, das sich seiner angenommen hat, zwei liebenden Frauen und nicht zuletzt der eigenen Schwester zumS erhängnis. Der

Main, den man zuerst unschuldig des Mordes verdächtigte, begeht dann wirklich eine solche Tat. Doch nach verbüßter Gefängnisstrafe, als einfacher Schuhmacher, wird er wieder zum Helfer aus Menschlichkeit, das verschüttete Antlitz kommt ans Licht. Die politischen Ereignisse in Böhmen nach dem deutschen Zusammenbruch bilden den düsteren Hintergrund für die letzten Episoden des Romans. „Das Land zerschlug sein eigenes Gesicht. Es ist nicht wiederhergestellt. Es ist nicht wiederherzustellen. Aber da und dort, immer, gräbt sich das Menschenantlitz aus der Verschüttung hervor.“

Gertrud Fußenegger erweist sich auch hier als eine hochbegabte Erzählerin, die das Dunkle und Rätselvolle des menschlichen Wesens in knapper Darstellung hervortreten läßt. Das schicksalhafte Wirken der irrationalen Kräfte ist überall spürbar und erzeugt die mit Spannung geladene Atmosphäre des Romans. Die Schilderung der Landschaft und der Menschen ist ausgezeichnet gelungen, plastisch und lebenswahr. Der Realismus der Dichterin hält das rechte Maß: der Abgrund wird sichtbar, aber auch die rettende Liebe.

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