6572901-1950_28_15.jpg
Digital In Arbeit

Sonntagsfrieden

Werbung
Werbung
Werbung

Oftmals liegt für uns in der tiefen Stille und hohen Verschwiegenheit mancher Stunden eine ganz besondere Beunruhigung, als seien Luft und Licht um uns nicht wie Glas, durchsichtig — sondern als trete die Welt uns wie ein Zauberspiegel entgegen, hinter dessen undurchsichtigem Amalgambelag etwas vorbereitet wird zu unserem Verderben. Je vollkommener der Frieden ist, dem wir begegnen, desto undurchdringlicher wird auch unsere Beklemmung: denn alle Vollkommenheit ist verdächtig auf dieser Welt, in der die Ströme ineinanderfließen und nicht getrennt und unbeeinflußt nebeneinander einhergehen.

Ich erinnere mich bebend an einen Morgen im Kriege, in dem diese Beunruhigung, die lange genug unsere Herzen bedrängt hatte, endlich Gestalt annahm — die Gestalt der nackten und klaren Gefahr. Und dann entdeckten wir, daß wir diese Gefahr begrüßten wie einen guten Kameraden: der blendende Spiegelbelag hatte ein Loch bekommen, und wir durften sehen, was hinter ihm gegen uns vorbereitet wurde. Wir sahen es erleichtert, obwohl es zu unserem Verderben hindrängte.

Wir hatten, mein Fahrer und ich, in den benachbarten Abschnitt zu gelangen. Aber wir waren alle vor kurzem aus einem einzigen Kraftzentrum sternförmig ausgestrahlt, und was zwischen den einzelnen Strahlen lag, war Niemandsland. So hätten wir, um sicher zu gehen, zurück in den Mittelpunkt und auf der Vormarschstraße der benachbarten Einheit wieder frontwärts reisen müssen, einen vielfachen Umweg, verglichen mit der etwa 30 Kilometer langen Querverbindung. Ob aber dieser Querweg feindfrei war? Wir konnten keine Auskunft bekommen oder, was viel beunruhigender war, wir erhielten widersprechende Auskünfte: feindfrei, feindbesetzt, sehr fraglich, völlig sicher, unfahrbar, gesäubert, zurückerobert vom Feind ...

Hermann und ich sahen uns an. In unserem Blick war die Unruhe der Kreatur verhängt durch die langgeübte Gewohnheit, der Gefahr bedenkenlos entgegenzutreten. Hermann zog die Mundwinkel geringschätzig herab und sagte: „Fahren wir!“

Nun begannen wir den Sonntagausflug in unserem kleinen Kraftwagen, an dem nichts als die graue Farbe seine kriegerische Bestimmung erkennen ließ, und diese Farbe war außerdem falsch, denn das Land ringsum lag lehmbraun da. Welchen Tag der Kalender nun wirklich zeigte, das wußten wir nicht, aber nach dem, was wir sahen, mußte es ein Sonntag sein.

Uber dem sonndurchglühten goldbraunen Land wölbte ein riesiger Himmel sich in tiefem Veilchenblau. Mit der breiten Ruhe später Flüsse schüttete die Sonne ihr Licht über die flache Landschaft herab, auf der nichts, nichts sich bewegte. Eine gelbe Straße voll feinstem Lehmpuder rollten wir lautlos dahin, eine dichte Wolke von Staub, die sich lange Zeit nicht mehr senkte, hinter uns lassend. Es war völlig windstill. Auf ordentlich abgeernteten Feldern standen die Kornmandeln in Reih und Glied, und es schien, als könnten sie auch in der Luft stehenbleiben, so heiß und still wie es war. Wir kamen zu dem ersten Dorf und blickten auf unsere Landkarte mit den ungewohnten zyrillischen Buchstaben: wir waren auf dem rechten Weg. Das Dorf schien ausgestorben, war aber vom Krieg völlig unberührt, ein Anblick, der uns allein schon befremdete, denn wir kamen aus den fürchterlichen Wochen endloser Vernichtungen. Die weißgekalkten Häuschen blitzten unter dem dunklen Himmel und unter den dunkleren Dächern. Gestampfter Lehmboden auf den Wegen war so sauber, als sei er gebürstet Worden. Uber Höfe und Gärten hin waren Stricke gespannt, auf denen weiße Wäsche, gutes weißes Leinen, trocknete oder bleichte. Gänse und Enten schritten wichtigtuerisch mit ihren roten Füßen umher, als hätten sie etwas zu inspizieren. Sie sahen uns an, wie wir vor-

überfuhren und schnatterten nicht einmal, als seien wir Luft. Und ringsum kein Mensch, kein Laut. Wir kamen am Dorfbrunnen vorbei: reglos hing der glänzende Pumpenstiel, blank wie Stein, herab, unberührt. Kein Eimer, kein Faß, keine Frau mit dem Schulterjoch für die Kübel. Eine Kindergießkanne stand im Staub, sorglos vergessen, grellblau lackiert. Wir fuhren schweigende Felder entlang und blickten scharf auf die verlassenen Mandeln der Frucht: darin pflegten sich oftmals Schützen zu verstecken. Keine Bewegung, kein Laut, kein Atemzug, keine verdächtige Veränderung, nichts. Korn, Korn, sonst nichts. Und die schweigende spiegelnde Glocke des Lichts

üler allem — eine verlassene Märchenbühne, Sonntag ohne Menschen, Leere...

Auf unserer gelben Straße waren wir den Spuren eines Lastwagens gefolgt, der das Muster seiner Bereifung vor uns in den Staub geprägt hatte. An diesem Muster erkannten wir ein eigenes Fahrzeug, und diese Spur war das einzige Anzeichen einer Nähe. Nach einer Wendung der Straße sahen wir im Flimmern des Spätsommerlichts den Wagen vor uns fahren. Aber wir näherten uns ihm rasch, er fuhr wohl langsam. Hermann sah mich an: „Keine Staubwolke“, sagte er. Der Lastwagen fuhr nicht, er stand. Wir kamen ihm ganz nahe, er stand sogar schief, es waren ihm an einer Seite die Reifen beschädigt worden. Eine Wasserlache blickte ihn von unten her an: der Kühler war durchschossen. Aber sonst nichts — kein Verwundeter, kein Toter, kein verlorener Helm, nicht das geringste Anzeichen von Angreifern oder Flüchtlingen.

Und von nun an fuhren wir auf der Straße ohne Spuren. Nur die Abdrücke von Bauernrädern waren zu erkennen, im Mehl des Weges unscharf gezeichnet, wie hingehaucht. So fuhren wir in den

Sonntag hinein und in das nächste Dorf, das still und blank und verlassen dalag wie das vorige.

Auf seinem Platz begegneten wir die ersten Menschen. Wir sahen sie schon von ferne, sie gingen geschlossen. Sie wirbelten Staub auf, endlich! Wir kniffen die Augen enger, um im grellen Licht besser zu sehen: die Farbe ihrer Kleidung war zu sehr olivgrün. Aber wir konnten nicht anhalten, das wäre höchst verdächtig gewesen. Wir blickten uns an, hilflos, wie wir waren, eng in dem kleinen Kasten des Automobils. Die Waffen zu unseren Füßen konnten wir nicht gebrauchen.

„Dreh deine Scheibe herunter“, sagte ich zu Hermann, „damit es wenigstens keine Scherben gibt. Und Gas!“

Uns entgegen kam ein russischer Unteroffizier mit zwölf Mann, die ihm formiert folgten. Sie waren alle im Helm, hatten Maschinenpistolen umgehängt und Handgranaten im Leibriemen. Ein Stoßtrupp. Sie marschierten auf uns zu als sähen sie uns nicht. Hermann gab Gas, so gut es die Straße zuließ. Jetzt waren wir auf zehn Meter heran, und sie mußten uns erkennen.

Wie ich selber dreinsah, weiß ich nicht Hermann blickte wie einer, über dem das Fallbeil blinkt und nicht mehr lange wartet. Ich fühlte uns in eine vollkommene Leere schweben, als flögen wir lautlos durch ein Loch aus,unserer Welt heraus. Ich dachte nicht mehr, aber meine Glieder vollführten noch Bewegungen, die nicht aus dem Willen kamen. Ich beobachtete, wie ich etwas tat, was ich weder beschleunigen noch verhindern konnte:

Ich blickte beim Wagenfenster hinaus und legte die Hand an die Mütze. Und der fremde Bauer, im Kleid des feindlichen Soldaten, blickte mich aus großen blauen Augen an, legte ebenfalls die Hand an den Helm und folgte mit dem Kopf, als wir an ihm und seinen Leuten vorüberfuhren. Sofort darauf verschwanden alle in der Wolke aus Staub hinter uns.

Hernach war ein eisiges Gefühl in unserem Rücken, als fege ein Windsturm durch unseren Wagen. Jetzt mußten sie sich besonnen, sich umgewendet haben und in die Staubwolke schießen: aus dreizehn Maschinenpistolen konnten nicht nur Fehlschüsse kommen ...

Aber es blieb still. Mit einmal hörten wir nun, daß unser Wagen polterte. Wir waren durch irgend etwas hindurch, und es war wie ein Gefühl von Dankbarkeit für die Gefahr, die sich uns in den braunen Gestalten gezeigt hatte.

Bald darauf nahten wir einer Stelle, wo auf der Straße hinter einem Maschinengewehr zwei Männer lagen. Das Rohr zeigte auf uns. Ich neigte mich weit zum Wagen hinaus, die Tür geöffnet, und schwenkte meine .Mütze in schrecklicher Verwirrung. Es waren eigene Posten, die dort hinter dem Gewehr lagen. Wir erreichten sie, und aus dem Graben sprang ein Offizier auf uns zu:

„Wo kommen S i e denn her?“

Wir nannten den Ort. Er blickte uns verständnislos an.

„Von dort erwarten wir seit Stunden jeden Augenblick den Angriff!“ — schrie er.

Da zerbrach das trügerische Spiegelbild des sonntäglichen Friedens vollends und wir tauchten wieder unter in der gewohnten Welt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung