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Sowjetjugend 1961

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Zwischen der Friedenstaube unc dem Villenviertel, in dem sich übrigens auch die Villa von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow befindet, stehl eine einsame kleine Kirche gegenübei der Lomonossow-Universität auf den Lenin-Bergen. Diese kleine Kirchs arbeitet, das heißt, sie dient ihrem ursprünglichen Zweck — als Gotteshaus. Also sie ist kein Museum, kein Schuppen, keine Wohnung, keine Ruine. Sie ist eine Kirche. Sie ist sogar eine sehr schöne Kirche. Sie ist wahrscheinlich der letzte Rest der alten Zeiten auf den Lenin-Bergen, hoch über Moskau. Wir — die österreichische „Delegacija” — knipsen sie, und wie wir so dabei sind, unsere schönsten Aufnahmen zu machen, kommt plötzlich ein Radfahrer, ein junger sowjetischer Mann, dahergefahren. Er lehnt sein Rad an einen Baum, stellt sich auf der breiten Straße vor der Kirche auf, bekreuzigt sich, fällt auf die Knie, berührt mit dem Kopf den Boden, steht wieder auf, bekreuzigt sich wieder, fällt wieder auf die Knie usw., an die zwanzigmal, und das alles in Moskau am 14. April 1961, am gleichen Tag, an dem Moskau Major Gagarin feiert.

„War das typisch Moskau?” wird man mich fragen Natürlich nicht. Eines aber war doch typisch: Moskau überrascht gern mit absolut Untypischem. Ich habe dann im Laufe eines Monats noch viele junge Menschen gesehen und mit vielen gesprochen, religiöse junge Leute aber habe ich keine getroffen.

„Ist das wahr?” wird man mich wieder fragen. Und ich werde antworten müssen: „Es ist nicht wahr.” Denn ich habe viele junge Mönche gesehen, die aussehen wie die Bilder russischer Heiliger, mit ihren wachsgelben Gesichtern und üppigen Bärten, in ihrer schwarzen Kleidung, auf dem golden-weißen Hintergrund der orthodoxen Kirchen von Zagorsk. Aber was bedeutet dieses Häuflein von Gläubigen in dem Riesenmeer der areligiösen Masse? Wenig! Vielleicht aber auch viel. Der Heiland hatte auch nur zwölf Apostel und eine dekadente Umwelt um sich. Die dekadente Umwelt fehlt allerdings in der Sowjetunion. Man kann alles von den Sowjets sagen, nur nicht, daß sie dekadent sind. Wenigstens sind sie es noch nicht.

Am 1. Mai herrscht nicht nur auf dem Roten Platz ein Gedränge, sondern auch auf allen Zufahrtsstraßen. Zumindest wogt auf allen für den Fußgänger frei zugänglichen Straßen ein Strom von Menschen in Richtung Roter Platz zur Maiparade. Ich lasse mich mittreiben. Ich passiere unzählige Sperren und Kontrollen: „Genosse, Ihren Ausweis, bitte!”, höre ich, und ich weise mich aus. Mein österreichischer Paß und eine Einladung zur Tribüne öffnen Tür und Tor. Viele Kinder. Es ist fast ein Fest der Kinder, der Jugend. Dabei schnappe ich. auch folgendes Zwiegespräch auf:

„Vater, Vater, ist Lenin schon tot?”

„Ja, mein Kind.”

„Ist Lenin für die Wahrheit gestorben?”

„Ja, mein Kind, er ist für die Wahrheit gestorben.”

Der kleine, vierjährige Sowjetbürger weiß nichts anderes, kann auch nichts anderes wissen.

Die Wahrheit ist allmenschlich. Lenin ist die Sowjetunion. Übrigens.

sein Vater war auch nicht gerade ein erfahrener Mann mit seinen 25 Jahren. Er war neun, als der zweite Weltkrieg zu Ende ging. Er kennt auch keine andere Wahrheit.

Noch immer ist der 1. Mai. Ich stehe schon auf der Tribüne. Das Gedränge nimmt beängstigende Formen an. Auf dem Mausoleum erscheint Chruschtschow mit Gefolge. Gagarin kommt mit einigen Minuten Verspätung an, grüßt und lächelt. Sein Lächeln ist in der Sowjetunion zu einem Begriff geworden. „Ulybka Gagarina” — „Das Lächeln Gagarins”.

„Genossen, lassen Sie bitte meinen Sohn vor.” Die Kinder werden vorgelassen. Sie sollen sehen können. Wie sie dann von ihren Eltern wieder gefunden werden, weiß ich nicht. Es ist schwarz vor lauter Menschenmassen. „Haben Sie nur einen Sohn mitgebracht, Wassilij Iwanowitsch?” — „Ja, nur den jüngsten”, antwortet Genosse Wassilij Iwanowitsch. Und dann erklärt er seinem Bekannten, daß der älteste Sohn diese Aufmärsche nicht gern habe, lieber zu Hause sitze und Tolstojs „Krieg und Frieden” lese.

Von allen meinen Moskauer Bekannten war keiner auf dem Roten Platz. Sie feierten lieber zu Hause. Aber sie feierten; denn es ist ein Fest, welches das Osterfest ersetzt. Die Sowjets haben sehr wenige staatliche Feiertage, das heißt Tage, an denen alle Geschäfte geschlossen sind und die Arbeit ruht. Es gibt nur deren sechs pro Jahr. Sogar der Sonntag ist nur zum Teil ein Feiertag. Er ist Einkaufstag. Ganz Moskau ist an einem Sonntag auf den Straßen und in den Geschäften.

Von allen Militärangehörigen sind in der Sowjetunion die Marinetruppen die am besten aussehenden. Auch bei der Parade haben sie am schneidigsten abgeschnitten. Von allen Rangstufen machen die einfachen Soldaten den militärischsten Eindruck. Ein General mit roten Hosenstreifen, schlecht geputzten gelben Halbschuhen und einem Kind auf dem Arm ist in den Straßen Moskaus keine Seltenheit (solche Generäle sind mir sympathisch), die Soldaten und Matrosen dagegen sehen vorzüglich aus: sauber, stramm und höflich. Man begegnet ihnen überall, auf den Straßen und in den Museen.

Unsere österreichische Gruppe war natürlich auch in der Tretjakowka, wie die Russen die imposante Bildergalerie nennen. Dort sind neue und alte russische Meister in einer unübersehbaren, geradezu erdrückenden Masse zur Schau gestellt. Zum zweiten Male eilen wir durch diese Galerie mit ihren herrlichen Bildern, die meist soziale Themen zum Vorwurf haben, wie die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Wir gelan’gen auch in die einzigen leeren Säle, in die der sakralen Kunst. Uralte Ikonen von unschätzbarem Wert schmücken die Wände. Einsam sitzt die Aufsicht, eine Frau von etwa 40 Jahren, in diesen „Durchgangssälen”. Wir stehen ergriffen vor Andrej Rublews „Heiliger Dreifaltigkeit”, einem der wertvollsten russischen Kunstschätze aus dem 15. Jahrhundert.

„Was gefällt Ihnen hier denn so besonders?” hören wir plötzlich eine junge Stimme. Vor uns steht ein junger Marineoffizier.

„Sehen Sie denn nicht, wie schön dieses Bild ist?”

„Ich finde die anderen Bilder schöner. Hier ist alles Betrug, alles unwahr. Gagarin war im Himmel und hat keinen Gott gesehen”, setzte er die Unterhaltung fort.

Wir versuchten ihm auseinanderzusetzen, daß seine Argumente reichlich naiv wären, daß wir gewohnt seien, zu glauben, und daß die Kirche in unserem Leben eine entscheidende Rolle spiele und daß wir an diesem Glauben hängen. Ein zufälliges Gespräch mit allgemeinen, nicht durchdachten Formulierungen.

„Richtig, so erklären sie endlich diesem jungen, gottlosen Menschen die Herrlichkeit des Glaubens!” ruft eine ältere Frau aus der finsteren Ecke, von wo aus sie unserem Gespräch gelauscht hatte. Etwas beschämt von dem Glaubensbekenntnis dieser einfachen Frau verließen wir hierauf die Galerie, der junge Offizier und wir. Wir gingen dann noch ein Stück des Weges zusammen. Die Größe des Themas, das durch den Zwischenruf dieser Frau angeschnitten wurde, kam uns beiden wohl zum Bewußtsein. Doch dann sprachen wir von der Marine, von der Polarnacht und den Unterseebooten. Der junge Mann diente nämlich auf einem U-Boot im Weißen Meer.

„Georgij Michajlowitsch, haben Sie heute gelesen, daß die Tschechoslowakei Frankreich in der Stahlproduktion überholt hat?” Strahlend vor Glück begrüßt mich eine 18 jährige Moskauer Studentin in den Gängen der Lomonossow-Universität. Ich kenne sie kaum und hielt sie für ein kleines, kokettes Mädchen mit Stumpfnäschen,

blassen, ungeschminkten Lippen und karminroten Nägeln.

„Ob Sie mir glauben oder nicht, aber das interessiert mich gar nicht. Es ist mir wirklich gleich, wer mehr Stahl produziert, und ich weiß genau, die Tschechen werden noch lange Zeit brauchen, um die Franzosen einzuholen ...”

So viel hat sie doch von den Tschechen gewußt, daß ihnen noch vieles fehlt, um Frankreichs Geist einzuholen. Sie gab das zu und überlegte lange. Dann sagte sie: „Sie haben recht, Stahl ist nicht alles.” Ich war mit ihr dann abends im Theater. Wir sahen ein Tendenzstück aus der Zeit der ersten Revolutionsjahre. Tapfere, aber kaum des Lesens und Schreibens kundige Matrosen belehrten und erzogen die gelehrten, aber lebensfeigen Bourgeois.

„War es wirklich damals so?” fragte sie mich.

Ich kannte diese Zeiten noch aus eigener Erfahrung. Ich konnte mit ruhigem Gewissen antworten:

„Nicht ganz.”

„Ich habe es mir auch gedacht...”

Die Geschichte wird neu geschrieben. Sie lernen von edlen Matrosen, Bauernaufständen und von Spartakus. Romulus und Remus sind ihnen meist unbekannt.

Eine der unangenehmsten Erscheinungen des Alltagslebens in der Sowjetunion ist die Unfreundlichkeit mancher Kategorien von Menschen ausgerechnet in Situationen, in denen man im Westen normalerweise freundlichst behandelt wird, etwa in Restaurants vom Kellner, in Geschäften von den Verkäufern, Beamten an den Schaltern. Westliche Beobachter deuten diese Erscheinung als eine Art sozialistischer Desinteressiertheit am Kunden. Ich glaube eher, daß diese sicherlich in manchen Fällen richtig gestellte Diagnose doch durch eine historisch notwendige Korrektur ergänzt werden muß: Die Russen haben einen Herr-und-Knecht-Komplex, wobei sie immer darauf bedacht sind, sich ja nicht den Anschein zu geben,

sich in der Rolle des Knechts zu befinden. Sie haben sogar alle Worte aus ihrem Wortschatz entfernt, welche an die Herr-und-Knecht-Situation erinnern könnten, wie beispielsweise „Herr”, „Herrschaften” usw. Vor allen Dingen will der betreffende Kellner, Friseur oder Verkäufer bestätigt haben, daß er auch als Gleichberechtigter respektiert wird, und diese Bestätigung wird einem mit allen Mitteln äbgenötigt, etwa durch demonstrative Zurschaustellung vollkommener Gleichgültigkeit der Kundschaft gegenüber. Die Jugend ist in dieser Hinsicht besonders eindeutig und kennt keine Kompromisse. Sie pocht auf ihre in der Verfassung verankerte Gleichberechtigung auf Schritt und Tritt. Sie nehmen das Wort „Genosse” eben wörtlich.

Das Recht auf Lernen, der Wunsch nach sozialer, gerechter Stellung zum Nachbarn, der Drang nach freiem

Schaffen ist bei der Sowjetjugend allgegenwärtig. Natürlich gibt es auch „stiljagi” und „chuligany” (verschiedene Abarten der Halbstarken). Sie kommen sowohl in der Sowjetliteratur als auch im Leben vor. Natürlich sind das noch nie! : gelöst t Aufgaben, die dort wie auch bei uns ihrer Lösung harren. Sie beweisen uns aber, daß dort die ganze uns bekannte Skala der menschlichen Beziehungen untereinander vorhanden jst. Das soll man sich merken! So ungern wir es sehen: sie sind so wie wir.

„Ist das wirklich so?” wird man mich fragen.

„Nein”, werde ich antworten, „nicht ganz.”

Dieses „Nicht ganz” liegt vielleicht in der Härte der russischen Vergangenheit und in den vorhandenen Realitäten der Arbeitsmöglichkeiten. Wir leben doch in einer ausgeglichenen Welt; die Möglichkeiten eines westeuropäischen Durchschnittsbürgers sind bescheiden. Die Sowjetunion ist nämlich tatsächlich ein Bauplatz, für jedermann gibt es eine Arbeit. Aber es ist auch dort nicht jedermanns Sache, auf einem Bauplatz zu arbeiten.

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