6714479-1964_36_09.jpg
Digital In Arbeit

SOZIALIST, CHRIST, OFFIZIER

Werbung
Werbung
Werbung

Frankreich in den letzten Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende: Die schwärende Wunde von 1870/71, Weltausstellung, Kolonialpolitik, Fanfaren des Fortschritts von den Kathedern der hohen Schulen, süßer Schmerz in den Gesängen der Dichter. Fin de siede… In dieses Frankreich wächst ein junger Franzose: Charles Pėguy, geboren 1873 in Orleans. Die kleine gedrungene Gestalt, der harte Kopf, das aufschäumende Blut verraten die Ahnen — Bauern aus dem Land der Loire. Merkwürdiges Spiel des Zufalls oder Bestätigung einer alten Volksweisheit: der robuste und massive Knabe wird in seinen Gymnasialjahren von der Person eines kränklichen, in die Welt seiner frühreifen Gedanken eingesponnenen jungen Mannes angezogen. Er und Marcel Baudouin werden unzertrennliche Freunde. Große Pläne spuken in den jungen Köpfen. Gott hat uns aus dem Paradies vertrieben, nun gut, machen wir mit den Werkzeugen Vernunft und Wille die Erde zu einem Garten Eden. Mensch und Tier, alle haben hier Platz. Einer nur ist ausgeschlossen: Gott! Junge Menschen, Kinder ihres Jahrhunderts, späte Enkel der Aufklärer! Als der kränkliche Baudouin stirbt, schreibt Pėguy weiter an der Skizze zu jener „Harmonischen Gesellschaft”, zu jener Welt, in der nur Freude herrscht und aus der der Schmerz verbannt sein soll — Utopia. Und mit jeder Zeile nähert er sich dem französischen Sozialismus, der ja trotz Karl Marx niemals Saint-Simon, Fourier und Proudhon ganz verleugnen konnte.

Auf den Traum folgt das Erwachen, auf den Mythos die Politik, auf den „Harmonischen Staat” die Affäre Dreyfus. Bald steht Pėguy, der sich auf der Sorbonne für das Lehramt vorbereitet und inzwischen in seltsamer Treue zu dem toten Freunde dessen Schwester geheiratet hat, mitten im Getümmel. Links und rechts die Gefährten, die Elite des französischen Sozialismus jener Tage: Jean Jaurės, Lucien Herr, Leon Blum. Aber es gibt „Dreyfusiens” und „Drey- fusistes”. Männer, die mit lauterem Herzen für die von ihnen erkannte Gerechtigkeit und Wahrheit und daher für Dreyfus eintreten, die — wenn sie es auch anders nennen — alle ungefähr dasselbe meinen wie Pėguy, der Jahre später bekennen wird: „Wir wollten nicht, daß Frankreich im Zustand der Todsünde gegründet würde.” Und da sind noch andere da. Männer, die vom Kampf für das Recht und die Wahrheit sprechen, aber ihre eigene Partei und deren taktischen Vorteil meinen. Der Sieg scheidet die Geister. Im September 1899 verläßt Pėguy den ersten nationalen Kongreß der französischen Sozialisten, „angeekelt” — wie er schreibt — „von der Lüge und der neuen Ungerechtigkeit, die im Namen einer neuen Partei triumphieren würden”. In einem der für seine Person so charakteristischen Anfälle spontaner Auflehnung beschließt er die Gründung einer Zeitschrift, die das Sprachrohr aller durch die Taktik und Manöver der Tagespolitik unverdorbener Dreyfusiens sein soll. Die Männer des sozialistischen Parteiverlages zeigen die kalte Schulter. Leon Blum findet den Plan „unopportun” und Lucien Herr spricht das Wort, das tief verletzt: „Anarchist!”

So macht Pėguy sich allein auf den Weg. Er will „die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit, dumm die dumme Wahrheit, traurig die traurige Wahrheit”. Das ist auch das Gesetz, nach dem die „Cahiers de la Quinzaine” angetreten sind. Und die zweite Devise des Werkes, das Pėguy 1900 beginnt, heißt: „Die soziale Revolution wird eine ethische sein, oder sie wird nicht sein.” Der Mann hat seine Barrikade errichtet, auf der er über ein Jahrzehnt kämpfen wird. Noch weht über ihr die rote Fahne, noch gilt sein Hauptkampf der Rettung des sozialistischen Ideals vor den Händen und Händeln einer allzu praktischen und geschäftigen Politik. Die Ethik, der in den „Cahiers” um 1900 das Wort geredet wurde, ist noch nicht christlich begründet; allein an den Wegweisern kann man bereits das Ziel ablesen.

Pėguy aber ist aufgebrochen. Unrast wird ihn von diesem Tag an vorwärtstreiben, Kilometer um Kilometer. Unruhig ist unser Herz… Das Pėguys war es in einem besonderen Maß. Doch blicken wir auf den Kalender! Als Pėguy seinen eigenen Weg antrat, schrieb man das Jahr 1900. Ein neues Jahrhundert war angebrochen — unser Jahrhundert. Eine Welt kam in Bewegung.

1905 schlägt der Seismograph besonders heftig aus. Pėguy gibt Sturmwarnung. Kaiser Wilhelm hat seine historische Extratour, den „Panthersprung nach Agadir” gemacht. Die heftigen chauvinistischen Töne, die Pėguy jetzt wie auch in späteren Jahren anstimmt, sind an sich geeignet, sein Bild zu trüben. Allein wir wagen, ohne den leidenschaftlichen Franzosen in Frage zu stellen, diese Ausbrüche anders zu deuten. Pėguy sah nur Kaiser Wilhelm II. und die Pickelhaube; hellhörig und überwach wie er war, vernahm er aber schon damals den Marsch tritt der ungezählten Legionen, die in diesem Jahrhundert in Bewegung gesetzt werden sollten. Von einer unheimlichen Angst gepackt, stürzte er sich auf das preußischblaue Tuch.

Dann zwingt er sich wieder zur Ruhe. Doch die innere Unrast kann nur gebändigt werden. Sie bricht sich in vielen Fehden und Scharmützeln Bahn. „Gegen die Partei der Intellektuellen” geht es. und immer wieder gegen die Welt der „Moderne”, der Trägheit, der Verflachung. Daneben werden die ganz großen Schlachten geschlagen. Nicht in den „Cahiers”, sondern in der eigenen Brust. Eines Tages im Winter 1908/9 bekannte er auf dem Krankenlager einem alten Freund: „Ich bin Katholik.”

Doch die Schatten werden tiefer. Immer lauter wird das Grollen des Donners, die Konturen der kommenden Weltkatastrophe zeichnen sich deutlich ab. Noch einmal wiegt sich die Welt in Frieden, doch Pėguy weiß, daß der Krieg schon da ist. Wild schlägt und sticht er um sich. Zwei ‘ •ttrÖte’nde Pamphlete, gegen jene seiner Mitbürger, in denen er „Defaitisten” vermutet, sind das Ergebnis. Das Wort vom Kriegszustand iij Frieden zeiten” fällt. 1912, 1913 und auch 1914’wußte man damit wenig ahzüfärijgen. Ein halbes Jahrhundert später wissen wir sehr wohl, was das ist. „Der Kriegszustand in Friedenszeiten”: das ist nur das altmodische Wort für den „kalten Krieg” — unser Schicksal. Dem Anfall ungebändigter Existenzangst folgte tiefste Verzweiflung, und dieser — merkwürdig! — Ruhe und Hoffnung. Die letzten Hefte der „Cahiers” atmen sie.

Mitten in einem Manuskript der „Cahiers” wird Pėguy auch abbrechen und einen Blick auf den Kalender werfen.

1. August 1914.

Wenige Tage später wird er sich den Säbel umschnallen und das Käppi aufsetzen. Der Feuerorkan, dessen Glut er entgegengeeilt, ist da, er hat Frankreich erfaßt, tief frißt er sich in französisches Land, in Pėguys mystisch verehrtes Land der Jeanne d’Arc und des heiligen Ludwig.

Am 5. September geht er seinen Infanteristen voraus durch die Haferfelder von Villeroy. Gegenangriff. Eine Kugel zerschmettert Pėguy die Stirn. Es war der Abend des ersten Tages der Marneschlacht.

Charles Pėguy fiel 1914. Der mächtige Strom seiner Gedanken fließt weiter. Unsichtbar und gleichsam unterirdisch in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg. Das Frankreich des Sieges hielt sich einen Unruhestifter wie Pėguy vom Leibe. Aber in der Zeit der neuen Bedrohung und des Niederbruchs erinnerten sich die Franzosen seines Namens. Und mit ihnen manche andere europäischen Christen. Mit Erstaunen und nicht ohne Erregung sahen sie, daß dieser Mann, der ein Leben lang gegen die Moderne polemisierte, ir. Wirklichkeit einer der ersten „modernen”, das heißt die Forderungen und Aufgaben unserer Zeit erkennenden Christen, war. Die Losiösung der französischen Katholiken aus erstarrten royalistischen Traditionen, der beispielhafte soziale Impuls, der ihren Aufbruch in den Jahren nach 1944 auszeichnete, sind erst durch die Person und das Werk Charles Pėguys ganz verständlich. Und erst die katholische Literatur unserer Zeit! Kaum einer von den großen katholischen Autoren der Gegenwart, in dessen Werk nicht Splitter vom Gedankenbau Pėguys zu entdecken sind. Bernanos’ mystisches Lob des Geistes der Kindheit hat in Pėguys Werk ebenso ihre Wurzeln wie seine Kampagne gegen die „Wohlanständigen”. Wenn Claudel aber seinem „Seidenen Schuh” das Geleitwort gab: „Gott schreibt gerade, auch auf krummen Zeilen”, so steht schon bei Pėguy: „Wenn die Gnade nicht gerade kommt, kommt sie überquer…” Und auch der Satz der großen Szene des Kartenspiels der „Jeanne d’Arc” von Claudel-Honegger: „Ich habe gewonnen, das heißt, ich habe verloren”, ist durch das Peguy-Wort: „Wer verliert, gewinnt”, vorgezeichnet. „Gott braucht die Menschen”, hat ein dritter Landsmann des toten Dichters einen großen (verfilmten) Roman genannt. Auch Henri Queffelec folgte mit diesem kühnem Gedanken nur Pėguys Spur. Im „Mysterium der Hoffnung” steht der Satz: „Wir mangeln Gott… Gott hat uns nötig.” Graham Greenes Werke, seine wirklichen literarischen Werke, wie überhaupt der moderne „theologische Roman” (Bernanos, Mauriac, Le Fort, Langgässer), fußen in vielem in jener Vorstellung von Sünde und Gnade, zu denen wiederum Pėguy sich durchgerungen hatte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung