Spät, aber befreiend

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"Liebe Schwester": der neue Roman von Renate Welsh über einen Kleinkrieg zweier Schwestern und die schwierige Annäherung.

Es gibt keine "Extrapunkte" für sinnlose Selbstverleugnung und freiwilligen Verzicht auf Glück. Das ist ein Lehrsatz, den vielleicht schon bald keiner mehr verstehen wird. Sefa (84) und Karla (81) gehören noch einer Frauengeneration an, für die Selbstverwirklichung ebenso wenig Thema war wie Fragen der Sexualität. Damals gab's nur "das da unten" und "sogar die Hunde auf der Straße haben ein gewisses Schamgefühl gezeigt", meint Sefa.

Behütet, aber lieblos aufgewachsen in einem gutbürgerlichen Hietzinger Elternhaus - die Mutter aus Stahl, der Vater aus Gummi, analysiert Sefa im Rückblick - sind die Schwestern nach durchschnittlichen, keineswegs schlechten Ehen verwitwet. Der Kontakt zu den Kindern und Enkeln ist spärlich, und so leben die beiden seit einigen Jahren wieder gemeinsam in der elterlichen Wohnung, zu zweit vereinsamt und ein wenig verbiestert. Es ist ein schwieriges Zusammenleben mit all den unausgesprochenen Lebenslügen, Kränkungen und eingebildeten Eifersüchteleien. Da kann etwa für Sefa schon der regelmäßige Besuch im Bestattungsunternehmen zu einem Höhepunkt geraten, zumal, wenn sie sich selbst vorab ein riesiges Rosenbukett bezahlt und sich vorstellt, wie die jüngere Schwester dereinst über den Absender rätseln wird.

Späte Einsichten

Renate Welsh, vor allem als Kinderbuchautorin viel beachtet und geehrt, arrangiert für die beiden alten Damen eine Reihe von hilfreichen Zufällen, die ihnen den Weg ebnen zu späten Einsichten und Aussprachen. Allen voran die amerikanische Enkelin, die Kassetten schickt mit der Bitte, Oma und Großtante mögen sie für ein Geschichteprojekt mit ihren ganz privaten Erinnerungen an Krieg und Nachkriegszeit besprechen.

Zögernd und miteinander hadernd beginnen die Schwestern, sich mit ihrer Vergangenheit und damit auch miteinander zu beschäftigen. Der psychologische Reinigungseffekt bleibt nicht aus. Selbst die beschämende Einsicht, in Sachen Zeitgenossenschaft versagt zu haben, kann, einmal ausgesprochen, befreiend wirken. Plötzlich beginnen sie die wenigen noch lebenden Schulkolleginnen zu befragen nach dem Schicksal dieser jüdischen Mitschülerin, jener damals verschwundenen Lehrerin. Und plötzlich können sie auch ihre eigenen Lebensprägungen und Verbohrtheiten und deren Spiegelung in der Schwester besser verstehen. Der Panzer der seelischen Verkrustungen wird porös und der Weg frei für eine allmähliche Aussöhnung mit den vertanen Chancen. Damit öffnet sich ein neuer Blick auf die "web leise rechts", die liebe Schwester. Es ist Karla, die jüngere und pfiffigere, die sich gerne in Anagrammen ausdrückt - zum Spaß, wenn's um die Einkaufsliste geht, aber auch für jene Dinge, die zwischen den beiden schwer auszusprechen sind.

Sinn für Untertöne

Mit einem wunderbar feinen Sensorium für die Untertöne beschreibt Renate Welsh den täglichen Kleinkrieg der beiden, die schwierige Annäherung und die nicht weniger schwierige Suche nach Lebenslust angesichts zunehmender körperlicher Gebrechen und der vielen Todesfälle im immer schütterer werdenden Bekanntenkreis. Schon in diesem Teil des Buches wird deutlich, dass auch späte Einsichten in Lebensfehler, Versäumnisse und eigene Schuld noch befreiend sein können. Fast wünscht man sich, die Autorin hätte auf die Schlusspointe verzichtet. Es hätte der Liebesgeschichte Sefas mit einem etwas jüngeren Herrn nicht bedurft, um die positive, auch didaktische Grundtendenz des Buches zu verdeutlichen. Wenn das happy end zu märchenhaft gerät und die therapeutische Intention zu stark in den Vordergrund tritt, besteht die Gefahr, dass das Buch - wie schon geschehen - mit dem Etikett: ein "netter" Roman abgelegt wird, und das hat die sehr komplexe Beziehungsgeschichte der beiden alten Schwestern nicht verdient.

Liebe Schwester

Roman von Renate Welsh

Deutscher Taschenbuch Verlag,München 2003. 256 Seiten, kart., e 15,-

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