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Späte Identifizierung mit einem gründlich veränderten Südafrika

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Ein Jahr nach der englischen Originalausgabe kommt die deutsche Fassung neuer weltanschaulich-literarischer Überlegungen der berühmten Erzählerin Nadine Gordimer heraus: „Schreiben und Sein”. Der Band wurde allerdings um zwei Texte bereichert: eine subtile Studie über Joseph Both sowie Nadine Gordimers Nobelpreisrede von 1990, welche in der Erkenntnis und dem Bekenntnis gipfelt, Wahrheit sei „schließlich das Wort der Wörter” und immer „das der Flüche und der Lobeslieder”.

Die 1923 „in einer kleinen Gold-minenstadt, 45 Kilometer von Johan nesburg entfernt, irgendwo im Buschland” geborene Autorin war die I 'och -ter von Einwanderern: „Meine Mutter kam aus England nach Afrika, als sie sechs Jahre alt war. Mein Vater kam im Alter von 13 Jahren aus Lettland.” Die mütterlichen Großeltern waren ausgewandert, weil das Abenteuer der Diamantensuche lockte. Der Vater hingegen „wurde von seinem Vater nach Afrika geschickt, um den Pogromen und der Armut zu entgehen”. Die Eltern kamen aus sehr unterschiedlichen Gesellschaftsschichten: Sie „hatte eine gute Erziehung inklusive Klavierstunden hinter sich”, der Vater hingegen „schämte sich seiner mangelnden Bildung, und meine Mutter verhehlte ihr Gefühl, unter ihrem Niveau geheiratet zu haben, keineswegs”. Trotzdem wurde es keine Mesalliance. „Es lag ein gewisser eigensinniger Takt darin, nicht davon zu sprechen, woher sie kamen.” Beide waren jüdischer Herkunft, die Mutter war Agnostikerin „und mein Vater, der in einer orthodoxen Familie aufgewachsen war, wagte es nicht, ihren höhnischen Bemerkungen über die Heuchelei aller organisierten Be-ligionen zu widersprechen”.

„Ich werde nie eine Autobiographie schreiben”, konstatiert sie in der abschließenden, 22 Seiten starken Milieuanalyse. „Jene andere Welt, die die Welt war”, gemeint ist Eng land, wurde von der Schülerin Nadine als Heimat empfunden (ohne sie zu kennen), obwohl Südafrika knapp vorher aufgehört hatte, ein britisches Dominion zu sein. Zu den Buren gehörte sie ja nicht und zu den Schwarzen erst recht nicht. Auch die familiäre Situation mag bewirkt haben, daß ihr frühzeitig alle Rassen- als Klassenunterschiede auffielen.

„Meine Mutter schärfte mir ein, auf dem Schulweg nicht an den Baracken der Bergwerksgesellschaft vorbeizugehen, in denen die schwarzen Bergleute lebten.” Jahre nachher erzählte ihr ein farbiger Freund, „daß seine Mutter ihn anwies, auf seinem

Fahrrad sofort in eine andere Straße abzubiegen, wenn er weiße Jungen auf sich zukommen sah.” Heute weiß sie: „Er hatte sicher mehr Anlaß, diesen Warnungen zu glauben.”

Sie begann viel zu lesen und fing bald an, zu schreiben. Als Zwanzigjährige konnte sie ihren ersten Roman veröffentlichen. „Ich glaube, es war ein Glücksfall, daß ich in die Dekadenz der Kolonialära hineingeboren wurde.” Das mag stimmen, doch bleibt dieser Umstand ein Sektor ihres moralisch und literarisch erstaunlichen Horizonts: beides gleich imponierend. Denn sie weiß nicht nur zu erzählen, sie weiß auf luzideste Weise, wie und warum man erzählt, kurzum: sie kann schreiben. Im Kapitel „Fiktionen und Realitäten” findet sie schöpferische Antworten auf die banale Fragerei, „auf welches lebende Vorbild diese oder jene Gestalt zurückgehe?” Denn: „Der Schriftsteller ist für seine Gestalten so etwas wie ,die Rippe Adams'.” Jede Figur, die er erfindet, hat er in sich gefunden, aber „daß fiktionales Schreiben grundsätzlich Autobiographie sei, bedeutet, das Geheimnis der Phantasie zu leugnen, statt es zu lüften.”

Wenn Nadine Gordimer das Wesentliche eines Autors schildert, wächst die Monographie des Literaten unwillkürlich zur Monographie eines besonderen Weltzustandes. Zurecht führt daher der Abschnitt „Joseph Roth” den Untertitel „Das Labyrinth des Reiches und des Exils”, denn das ist die Perspektive, aus der er gesehen wird. Genauso ist es bei Nagib Machfus und seinem Meisterwerk „Die Kairoer Trilogie” und erst recht bei dem modern-progressiven israelischen Autor Arnos Öz: „Das vergessene verheißene Land” wird tatsächlich „Der dritte Zustand”.

Beinahe tragikomisch mutet die mutige These an, von der sie ausgeht: „Sicher gehört es zu den ironischsten Wendungen der Geschichte, daß ein Volk, welches durch viele Generationen ohne Heimat in der Welt herumgestoßen wurde, sich schließlich in der Lage einer kleinen Kolonialmacht wiederfindet, die über das Schicksal eines anderen Volkes bestimmt: wo es wohnen darf, welche Arbeit es tun darf, welche Menschenrechte es genießt.”

So die gelassene Feststellung, sine ira et studio, einer Schriftstellerin jüdischer Abstammung, als Kind von Einwanderern aufgewachsen in der Schicht von Kolonisten, zu der sie nicht gehören wollte. Doch jetzt, dank dem totalen Umschwung im Jahr 1994, kann sie den erlösten Schlußsatz schreiben: „Ich bin keine Kolonistin mehr. Ich darf von ,meinem Volk' sprechen.”

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