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Spanien blickt nach Europa

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In einem Artikęl zum Jahreswechsel 1948/49 hatte sich der ehemalige spanische Außenminister Ram6n Serrano Suner im „ABC“ über eine gewisse „Abgespanntheit und Langeweile“ des spanischen Lebens, eine „gefährliche, kollektive Verständnislosigkeit“ vor den Problemen, die Europa und die Welt bewegen, beklagt. Er fürchtete, daß dieser Zustand die Zukunft Spaniens entscheidend beeinflussen könnte, und wünschte Spanien eine baldige Rückkehr „in eine stürmische Welt, in deren Mitte kein Volk sich den Luxus erlauben kann, allein zu bleiben“.

Vieles hat sich seit jenen Jahren zum Teil aufgezwungener, zum Teil in störrischer Pose freiwillig zur Schau getragener Abkehr von den Dingen Europas und der Welt in diesem Lande geändert. Vergessen ist das geflügelte Wort von jenem Spanien, das „mit dem Rücken zu Europa lebt, verstummt sind allmählich die mit galligem Sarkasmus geäußerten, aber nicht sehr weitblickenden, ätzenden Kritiken an allem, was in der Welt „anders ist oder geworden war als in Spanien — jene Sarkasmen, die vergrämte Spießbürger einer abgelegenen Provinz für alles übrig haben, was „in der großen Welt vorgeht.

Die bitteren Erfahrungen der letzten Jahre haben es vermocht, jenen Spaniern die Handlungsfreiheit wiederzugeben, die wie Serrano Suner unter dem Zustand der Dinge litten. So ergaben sich die ersten Konzessionen an eine seit den Tagen der deutschen Grenzwachen in den Pyrenäen und der in allen Winkeln Spaniens herumzischelnden deutschen Agenten von Grund auf veränderte Welt.

Ein neues, realistisches Weltbild

Die Tatsache dieser Veränderung mußte erst in ihrer Tragweite erkannt und verdaut werden. Die Presse sah sich genötigt, ihren Ton zu ändern. An Stelle hämischer Schadenfreude und vager Verbreiterungen über einzelne unglückliche Aspekte der europäischen und amerikanischen Politik setzte eine nicht ausschließlich von Ressentiments verdunkelte Information ein, genährt von neuen Korrespondenten und Kommentatoren, die endlich objektiv und leidenschaftslos Tatsachen berichteten und konstruktiv auswerteten. So formt sich im Spanier eine neues Weltbild, anschaulich und realistisch, so gewann der in seinem Unterbewußtsein schon lange gehegte Wunsch die Oberhand, teilzuhaben, nicht zurückzubleiben hinter den anderen Nationen, die sich nach der kurzen Parenthese der ersten Nachkriegsjahre zu einer neuen Zusammenarbeit gefunden hatten.

So ist Spanien reif geworden für die Gespräche, die sich seit längerer Zeit mit ihm angebahnt haben. Die ausländischen Delegationen und Kommissionen sprechen nicht mehr mit einem Dutzend souveräner, die Volksmeinung verachtenden Potentaten, sondern sie wissen, daß das Volk, das zu vertreten jene vorgeben, gleichfalls an den Konversationenteilnimmt. Es ist nicht mehr ein systematisch desinformier- tes Volk ohne Kontakt mit der Welt. Die Welt ist — zwei Millionen Besucher in den beiden letzten Jahren — zu Spanien gekommen. Auch für die Spanier ist es kein aussichtsloses Unterfangen mehr, bei den Behörden um einen Paß für eine private Auslandsreise einzukommen …

Wie sieht nun ein Spanier die Welt, vor allem Europa, wenn er bei Irun oder Port Bou über die Grenze geht und wo möglich auf seiner Reise noch eine Reihe anderer Grenzen überschreitet?

„La Actualidad Espanola“, eine in ihrer ersten Nummer vom 12. Jänner sich ausgezeichnet präsentierende neue Wochenschrift, geht dieses für den Spanier noch so neue und reizvolle Thema an. „Zuerst stellt er anekdotische Beobachtungen über Eisenbahnen, Landstraßen, Automobile, die Mechanisierung des häuslichen Lebens an“, Dinge, die auf ihn in ihrer praktischen Auswirkung geradezu überraschend wirken, „dann merkt er, wie jenseits der Pyrenäen die Sitten, die religiöse Frömmigkeit, das politische Denken neue Aspekte bekommen… Zwei einander entgegengesetzte Gefühle erwachsen in seinem Innern: er wünscht für sein Vaterland den technischen Fortschritt der anderen Nationen und betrachtet mit stolzer, schlecht beratener Verachtung ihr moralisches Niveau“, das ihm ein sehr tiefstehendes scheint, denn er läßt sich sehr von Äußerlichkeiten beeindrucken. In „ Champa“, einer illustrierten Zeitschrift des Spanischen Studentenverbandes, muß darum auch sofort die etwas überhebliche Verachtung eines jungen Studenten ihren Ausdruck finden, der offensichtlich das erstemal in seinem Leben den Fuß über die Grenzen setzte. Er mißt — mit bewundernswerter Präzision — die shorts und Bikinis der Französinnen in Biarritz und bemerkt in einer Wochentagsmesse in Notre-Dame trotz aller Andacht, daß er das einzige männliche Wesen ist, das die heiligen Sakramente empfängt.

Heraus aus dem „Kastizismus“!

Selten besitzt heute der Spanier die Fähigkeit, die äußere Fassade der Dinge richtig zu bewerten oder einen Blick dahinter zu tun. Er hat sich das so angewöhnt, weil es ihm auch unangenehm ist, hinter die moralische, soziale und politische Fassade seines eigenen Landes zu blicken. Selten auch ist er fähig, bei seinen Beurteilungen nicht in Extreme zu verfallen. Es sind zwei Extreme, in die der nun wieder mit einem Reisepaß ausgerüstete Spanier gern verfällt: entweder der Wunsch einer radikalen „Europäisie- rung seiner seihst, seines Volkes und seines Landes oder die Einkapselung in seinem stolz gefühlten „Kastizismus“. Die Europäisierung — das ist bezeichnend für die trotz allem noch vorherrschende Tendenz — sei „gefährlich für das nationale Leben“, schreibt Antonio Fontän in der „Actualidad Espanola“, und verrät damit, daß er zu jenen Spaniern gehört, die immer noch die Distanz zu Europa gewahrt wissen wollen. Aber derselbe Verfasser gibt zu, daß der Kastizismus eine dörflerische Einstellung ist, gleicherweise schädlich für das nationale Leben, das vom „Allende“, dem Jenseits der Pyrenäen, nicht abgekoppelt bleiben darf.

Das alte Thema der spanischen Denker und Dichter ist also wieder zu Aktualität gekommen, und diese Rückkehr zu einer Diskussion, die seit langen Jahren zugunsten der sich unleidlich offiziell gebärdenden Anhänger eines verbohrten Kastizismus entschieden schien, ist ein großer Fortschritt. Er bedeutet, daß vor allem die Jugend — dieesnötighat, denn was wäre das für eine Jugend, die sich ihre Haltung von einer aus einem Bürgerkrieg ihre Autorität herleitenden geistigen „Elite vorschreiben ließe, ohne selbst den Wunsch zu verspüren, zu prüfen, zu wägen und zu zweifeln — sich ernstlich um eine positive Einstellung zur Umwelt bemüht.

Was Wunder, wenn das brennendste Problem unseres Kontiüents, das „Europa“ heißt, nun endlich auch die spanischen Gemüter zu bewegen beginnt? Denn Ortega y Gasset hat zwar die Gemüter der Europäer zu betroffenem Aufhorchen veranlassen können, seine Landsleute aber entdecken erst heute mit Überraschung, was „dieser Herr“, wie ihn Fontan noch nennt, für das geistige Europa bedeutet.

Ortega, für den Spanier-sein nur eine Art der Bindung an Europa bedeutet, ist auch heute noch für viele Spanier der verrufene „europeizante“, der „Europä- elnde“, wie man es in einer neuen Wortbildung übersetzen müßte, die uns zwar absurd erscheint, nicht aber für die dieses Wort besitzenden Spanier…

Nun aber, nach so vielen überraschenden Zugeständnissen, bricht die spanische Lust am Anderssein und -denken wieder durch. Dem an 15 Jahre geistig imperative Gleichschaltung gewohnten Spanier scheint es unfaßbar, daß ein ver eintes Europa eine Vielheit nicht nur von Nationalismen, sondern auch politischen und religiösen Bekenntnissen zu beherbergen imstande wäre. Er argwöhnt, daß der utilitäre Bindekitt — Amerikahilfe, Schuman-Plan, Verteidigung gegen die Bedrohung aus dem Osten — nicht fest genug ist, das heterogene Gebilde eines vereinten Europas zusammenzuhalten. Er hätte sich mehr von dem „Cäsar der deutschen neuen Ordnung erwartet, dem ein Augustus, Tiberius oder Nero gefolgt wäre“.

Man sieht, der gute Wille, sich geistig mit den Problemen Europas zu befassen, ist da, wenngleich auch dann, gleichsam im ersten Schreck, über so viel „europä- elnde Betrachtungen der scheuende Sprung in einen „Kastizismus erfolgt, der, Tücke des Objekts, viel von einer ultra-falangistischen Deutschtümelei an sich hat. Und das sollte den Spaniern zu denken geben. Es wäre ein Extrem, schädlicher und gegenwartsfremder als ein wirklich spanischer Kastizismus.

Aber halten wir fest: Spanien — nicht nur das offizielle Spanien diplomatischer Galauniformen, nicht nur eine dem Volk ln unerreichbaren Fernen vorausschwe bende geistige Elite —, das spanische Volk hat begonnen, am europäischen Gespräch Interesse zu finden, begonnen beim Abiturienten, der, zum erstenmal der sorgenden Hut von Eltern, geistlichen und weltlichen Obern entflogen, düpiert vor einer short-tragen- den jungen Französin steht; aufgenommen vom Publizisten in der Provinz, der, inzwischen zum ehrwürdigen, greisen Mentor von Generationen geworden, mit leiser Wehmut fragend den Blick zur Leuchte des Abendlandes, nach Rom, wendet; temperamentvoll, aber nicht destruktiv in spanischen Athenäen von modernen spanischen Denkern mit einem Dawson, Toynbee, Lefevre, Leclercq und anderen diskutiert; entschieden bejaht von Wirtschaftsführern und Industriellen.

Das spanische Fragen, Zweifeln und Kämpfen sollte nicht ungehört an den Mauern der Pyrenäen abprallen. Das Gespräch darf nicht zum fruchtlosen Selbstgespräch werden, wenn auch von unserer Seite deshalb noch einmal zu längst überwundenen Gemeinplätzen zurückgekehrt werden müßte. Die Grenzen sind offen. Die Ohren und die Herzen sind es auch.

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