Spaniens Geschichte als Familienroman

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Komisch, grotesk und realistisch: der Roman "Milchzähne".

Der spanische Autor Ignacio Martínez de Pisón (geb. 1960) erzählt von einer Frau, der die Milchzähnchen ihrer drei Söhne kostbar sind: "Wie seltsam doch der menschliche Körper war, er verzichtete auf diese Zähne, obwohl sie sich in perfektem, vollkommenem Zustand befanden und noch keine Zeit gehabt hatten, kaputtzugehen! ... Verkörperten sie nicht all die schönen Dinge, die zurückzulassen wir uns von Zeit und Leben gezwungen sehen?"

Vom Leben dreier Generationen handelt der Roman "Milchzähne", von Menschen, die der Spanische Bürgerkrieg gezeichnet hat, und von der Veränderung in der Haltung zu diesem tragischen Kapitel, das 1936 begann und 1939 nicht wirklich endete, sondern erst mit dem Tod General Francos im Jahr 1975. Danach einigten sich die Spanier pragmatisch auf den "pacto de silencio", auf einen Mantel des Schweigens. Wie hätten die Menschen auskommen sollen mit einander, wenn sie die halbe Million Tote, Landsleute, umgebracht von Landsleuten, einander aufgerechnet hätten? Wer nicht schwieg, das waren Schriftsteller, die als Zeitzeugen in Bitterkeit und Empörung die Grausamkeiten schilderten. Jetzt wächst die Enkelgeneration heran. Ihr ist die "Welle des Gedenkens" zu verdanken. Seit 2000 bemüht sich die "Vereinigung zur Rückgewinnung des historischen Gedächtnisses", den in Massengräbern Verscharrten ein würdiges Gedenken zu geben.

Nicht anklagend

Und die Literatur? Pisóns Roman ist ein beeindruckendes Beispiel, wie ein jüngerer Autor einen großen Roman über dieses schwierige Thema schreiben kann, der nicht wütende oder anklagende engagierte Literatur ist und keine krampfhafte Vergangenheitsbewältigung, sondern prall von Leben, komisch, grotesk, realistisch.

Die Hauptfigur ist Raffaele Cameroni, ein Italiener, der sich aus finanzieller Not freiwillig für den Kampf in Spanien meldet, einer von 70.000. Er findet Geschmack am Faschismus und verliebt sich in eine junge spanische Krankenschwester. Dass er in Italien bereits eine Frau und ein behindertes Kind hat, verdrängt der Bigamist.

Sicht des Enkels

Cameroni kämpft sich vom kleinen Nudelhersteller zum Fabrikbesitzer nach oben. Erst spät erfährt er, dass die Familie seiner spanischen Frau Opfer der Faschisten zu beklagen hat und die Spanierin ihn möglicherweise geheiratet hat, um damit ihre Familie zu schützen. Nach Jahren verlässt sie ihn; sein ältester Sohn entdeckt in Italien die erste Familie seines Vaters und wendet sich in Verachtung ab; der zweite Sohn verschließt lange die Augen vor der Vergangenheit des "Alten": seine Sehnsucht nach einer intakten Familie ist größer als sein Wahrheitsbedürfnis. Doch dann verurteilt auch er den alten Faschisten mit Macho-Gehabe. Bevor dieser als über Siebzigjähriger Spanien in Richtung Italien verlässt, um sich um seine erste Frau zu kümmern, signalisiert ihm sein einziger Enkel Liebe und Zuneigung: Aus dessen Sicht verjähren politische Verirrungen und auch menschliche Schweinereien.

Milchzähne

Roman von Ignacio Martínez de Pisón Aus dem Span. von Sybille Martin

Hoffmann und Campe 2009

384 S., geb., e 19,95

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