Spanisches (Un-)Sittengemälde

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Miguel Delibes' vor 50 Jahren erschienener Roman "Mein vergötterter Sohn Sisí" rechnet satirisch mit dem spanischen Machismo ab und hat in der Zwischenzeit bemerkenswert wenig Staub angesetzt.

Schade, dass die "Zeit"-Redaktion bei ihrer Umfrage nach nationalen Vorurteilen im Juli 2003 nicht den greisen Spanier Miguel Delibes eingeladen hat: Schon vor 50 Jahren bestätigte er in seinem Roman "Mein vergötterter Sohn Sisí" alle Klischees, die über das uneuropäischste Land Europas im Schwange sind. Hätte ein Nicht-Spanier dieses Buch geschrieben, man hätte ihn in Spanien wohl dafür gern gelyncht. Delibes hat nach dieser satirischen Abrechnung mit dem Machismo seiner "Landsmänner" kontinuierlich weitergeschrieben, große, düstere Werke. Auf Deutsch erschien zuletzt (1999) "Der Ketzer", in dem er die Verfolgung spanischer Protestanten aufrollte.

Jetzt liegt also "Mi idoladro hijo Sisí" zum erstenmal auf Deutsch vor, in einer ausgezeichneten Übersetzung. Der Schauplatz: Delibes' Geburtsort, Valladolid, die einstige Königsstadt im Herzen Kastiliens, längst zur Provinzmetropole herabgesunken. Die Zeit: 1917 bis 1938, also eine dramatische Epoche in der spanischen Geschichte. Mit einem geschickten Trick geht Delibes über den spanischen Rahmen hinaus: Jede Lebensstation seines zu Beginn des Romans 35-jährigen "Helden" Cecilio Rubes wird eingeleitet mit Zeitungsnotizen aus aller Welt. In der Welt, die den Helden herzlich wenig interessiert, herrscht zu Beginn der erste große Krieg; am Schluss droht der zweite, und in Spanien wütet der Bürgerkrieg. Der trifft den gealterten Senor Rubes in seinem Lebensnerv, denn er raubt ihm den vergötterten Sohn und treibt ihn in den Selbstmord.

Delibes, ein Meister des unverstellten Blicks in die Abgründe der menschlichen Natur und die Besonderheiten seiner Landsleute, zeichnet den braven Bürger Rubes, Inhaber eines Sanitärwarengeschäftes, zunächst als nicht dummen, aber wenig durchsetzungsfähigen Geschäftsmann mit guten Ideen, die an der Trägheit der Stadtbewohner scheitern. Konservativ bis in die Knochen, lehnen sie Badewannen und Bidets ab. Verkaufen kann er nur Klosetts. Seine Ehe, lange auf seinen Wunsch hin kinderlos, erfährt eine gewisse Belebung, als er nach einem Kind verlangt, um der Sinnleere zu begegnen. Er bekommt einen Sohn. So jedenfalls sieht dieser Egozentriker die Sache. Liebe zwischen den Eheleuten? Wenig, denn Herr Rubes hält seine Frau nicht für eine ebenbürtige Partnerin. Sie trägt es mit Fassung, ist sie doch durch ihn sozial aufgestiegen, was ihre Schwiegermutter sie ununterbrochen spüren lässt. Frau Rubes versucht, das Söhnchen zu erziehen und muss erleben, wie jede Bemühung, aus dem Kind einen verantwortungsvollen Menschen zu machen, von ihrem Mann torpediert wird.

Delibes kann Dialoge schreiben, die der Wirklichkeit abgelauscht und doch so verdichtet sind, dass eine soziale Schicht Spaniens wie auf der Bühne erscheint: Das gehobene Bürgertum mit seiner Verzärtelung der Kinder männlichen Geschlechts ("Erziehung ist etwas für Arme"), mit Standesdünkel, Provinzstolz, Zynismus gegenüber Bildung, Fortschrittsfeindlichkeit auf vielen Gebieten des materiellen und geistigen Lebens, höchster Bewertung der persönlichen Ehre, Angst vor Gott ...

Der Autor hat mit Cecilio Rubes einen Menschen geschaffen, der weder fanatisch kirchenergeben, noch aufmüpfig republikanisch empfindet. Und doch explodiert vor seinem Geschäft eines Tages eine Bombe. Der Bürgerkrieg macht auch vor den Lauen nicht halt. Und der missratene Sohn spannt dem Vater dessen Geliebte seiner frühen Jahre aus. Cecilio erträgt das "widernatürliche" Verhältnis, er erträgt seine zunehmend frömmelnde, in die Breite gehende Ehefrau, aber als der Sohn, der Ehre halber, auf Francos Seite eingezogen wird und umkommt, springt er aus dem Fenster in den Tod: "Wo hat mein Scheitern begonnen? Gibt es etwas in meinem Leben, das nicht gescheitert ist?' Dann umfing ihn der ganze Ekel und die ganze Bitternis der Realität wie eine Wolke."

Aus einer Satire ist eine Tragödie geworden. Sie wirkt bis heute fort: In Spanien werden derzeit die anonym verscharrten Toten des Bürgerkriegs ausgegraben.

Delibes, mit dem höchsten spanischen Literaturpreis, dem Premio Cervantes, und vielen anderen Preisen ausgezeichnet, hat vor 50 Jahren der spanischen Ignoranz und Arroganz einen Spiegel vorgehalten. Der Modernisierungsschub seit Ende der Franco-Ära war gewaltig. Am langsamsten freilich verändert sich die Mentalität: Der 50 Jahre alte Roman hat bemerkenswert wenig Staub angesetzt ...

Mein vergötterter Sohn Sisí

Roman von Miguel Delibes

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

Ammann Verlag, Zürich, 2003

390 Seiten, geb.,e 23,60

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