Spanisches Wende-Panorama

19451960198020002020

Der neue Roman von Rafael Chirbes ist nicht ganz historisch, doch trotzdem große Literatur.

19451960198020002020

Der neue Roman von Rafael Chirbes ist nicht ganz historisch, doch trotzdem große Literatur.

Werbung
Werbung
Werbung

Ein 83-Jähriger liegt im Todeskampf. Aber sie lassen ihn nicht sterben. Sie, das sind die Politiker und Militärs, die Angst haben, dass nach seinem Tod alles anders wird, schlechter für sie, unberechenbar. 39 Jahre lang hatte der Alte die Zügel des Landes fest in der Hand: Keine Parteien, keine Gedankenfreiheit, keine Weltoffenheit, dafür großer Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik und das Schulsystem. Jetzt, am 19. Februar 1975, wird der klinisch längst Tote tatsächlich für tot erklärt: Francisco Franco, der "Caudillo", der den spanischen Bürgerkrieg mit über einer Million Toten zugunsten der Rechten entschieden hat, ist nicht mehr.

Rafael Chirbes, Jahrgang 1949, hat diesen einen Tag gewählt, um mehr als ein Dutzend Personen vorzustellen, die alle in einer Beziehung zu Franco stehen: "Der Fall von Madrid" - ein gewaltiges Panorama in Form eines eiskalten Romans. Da ist der Chef der politischen Polizei, dem klar ist: Spanien wird in ein neues Zeitalter eintreten. Noch am letzten Tag der Franco-Ära gibt er den Befehl, einen politischen Gefangenen diskret beiseite zu schaffen. Sein Freund, ein Möbelfabrikant, erkennt, dass die guten Zeiten, in denen systemfreundliche Geschäftsleute ohne Konkurrenz ihre Schäfchen ins Trockene bringen konnten, bald vorbei sein werden, was sein Sohn, ein biederer Kaufmann, nicht wahr haben will.

Chirbes lässt aber auch die andere Seite zu Wort kommen, Franco-Gegner aus dem Kreis der Intellektuellen, Studenten und Arbeiter. Ein politischer Roman? Auf den ersten Blick ja. Der Generationenkonflikt war möglicherweise im Spanien vor 25 Jahren tatsächlich politisch gefärbt und nicht nur ein "normales" Aufbegehren. Die Spanierinnen drängten wirklich mit geballter Kraft aus der Enge ihres häuslichen Lebens hinaus auf den Arbeitsmarkt. Und sie ließen sich das männliche Herrschaftsgehabe auch im Bett nicht mehr demütig gefallen. Gerade die erotischen Szenen des Buches verraten aber, dass der Autor nicht nur die Politik im Kopf hatte. Ihm geht es auch um die Kluft zwischen getriebenen Männern - und Frauen, die der rohen männlichen Leidenschaft ganz verschieden begegnen: sanft und leidend, aber auch raffiniert und herrschsüchtig.

Chirbes, ausgebildeter Historiker und für deutsche Leser durch drei vorangegangene Roman-Übersetzungen bereits gut greifbar ("Der Schuss des Jägers", 1996; "Der lange Marsch", 1998; "Die schöne Schrift", 1999), hat in diesem jüngsten Werk ein gnadenloses Panorama der spanischen Gesellschaft an einem wichtigen historischen Wendepunkt geschaffen. Nur: War es so? Millionen Spanier, die keine direkte oder indirekte Verbindung zum Franco-Regime hatten, nahmen den Tod Francos ohne Emotionen zur Kenntnis. Spanien hatte sich lange vor dem physischen Ende Francos Millionen sonnenhungrigen Touristen geöffnet, und Hunderttausende Spanier hatten in Deutschland und der Schweiz Arbeit gesucht und mit eigenen Augen gesehen, dass es auch andere Lebens- und Staatsformen als die ihre gab. So geschlossen wie Chirbes die spanische Welt des Jahres 1975 darstellt, war sie nicht.

Wenn ein Autor einen historischen Moment wählt, den viele Menschen noch im Gedächtnis haben, muss er sich die Frage nach der historischen Evidenz gefallen lassen. Niemand erinnert sich daran, dass im letzten Atemzug der Franco-Zeit politische Morde verübt wurden. Doch nichtsdestoweniger: Dieser Romancier kann schreiben. Er stattet jede Figur mit einer nur ihr eigenen Sprechweise aus und der Übersetzerin Dagmar Plötz ist ein Meisterwerk literarischer Übertragung gelungen.

Der Fall von Madrid Roman von Rafael Chirbes, Verlag Antje Kunstmann, München, 2000 301 Seiten, geb., öS. 291.-/e 21,15

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung