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Spannung kommt aus dem Alltäglichen

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Das Kino feiert heuer sein hundertjähriges

DJubiläum und der Film, immer wieder krankgejammert, gibt regelmäßig kräftige Lebenszeichen von sich. Die diesjährige Viennale, die Wiener Filmfestwochen, bestätigen das eindrucksvoll. Denn für elf Tage wurde das Kino wieder zum Treff- und Brennpunkt. Die Vielzahl filmischer Formen, Erzählperspektiven und Weisen, die Wirklichkeit zu reflektieren, die im „normalen” Betrieb fein säuberlich getrennt sind - zwischen Premieren-, Programm- und Alternativkinos - oder erst gär nicht gezeigt werden, waren an einem Ort versammelt. Nutznießer ist der Zuschauer, der in diesem Panorama lustvoll herumflanieren kann.

Über zwanzig Filme aus dem Hauptprogramm werden in den nächsten Wochen auch in den Kinoeinsatz kommen und einem breiteren Publikum zumindest einen kleinen Eindruck aktueller Filmentwicklungen bieten. Film muß nicht immer nur eine einzige spannungs- oder gefühlsgeladene Geschichte erzählen, die auf eine klare Endauflösung hinausläuft. Gerade dieses Medium kann die Komplexität und feinen Differenzierungen alltäglichen Lebens und wirklichkeitsnaher Situationen sensibel einfangen und bei inspirierter und gekonnter Gestaltung auch dem scheinbar Nichtspektakulären Aufregung und Spannung abgewinnen. Es sind dies jene Filme, die dem Zuschauer das Gefühl zu geben verstehen, anderen Menschen „beim Leben zuschauen zu dürfen” , nicht aus Voyeurismus, sondern als Anstoß, auch eigene Erfahrungen aus diesem Licht vielleicht ein wenig genauer formulieren zu können.

Eine solche Perspektive hat es in den letzten Jahren öfter geschafft, bei Festivals und sogar an den Kinokassen zu reüssieren. Mit einem herausragenden Beispiel dafür wurde die Viennale eröffnet. Wayne Wang konzentriert sich in „Smoke” auf ein Tabakgeschäft in Brooklyn und die Menschen, die hier ein- und ausgehen. Der Geschäftsinhaber macht seit vierzehn Jahren an jedem Tag zur selben Tageszeit vor der Tür seines Ladens ein Photo. Ein Bomanautor sieht sich außerstande, noch .etwas zu schreiben, nachdem seine Frau Opfer eines sinnlosen Gewaltaktes wurde. Ein schwarzer Jugendlicher gibt sich bei der Begegnung mit dem Schriftsteller als ein anderer aus. Eine Frau kehrt nach Jahren zu ihrem ehemaligen Freund zurück und eröffnet ihm, daß sie eine gemeinsame Tochter haben, die in Schwierigkeiten steckt. Auf den ersten Blick haben diese Figuren wenig gemeinsam, und doch nehmen sie entscheidenden Einfluß aufeinander. Eine Erzählung davon, wie Menschen miteinander reden und einander zuhören - oder eben auch nicht.

Das Mitvollziehen von anderen Realitäten im Kino übt oft eine seltsame Anziehungskraft auf das Publikum aus, in der meist widersprüchliche Empfindungen nach einer reflek-tiven Balance verlangen - die jedoch eine „Arbeit” des Zuschauers voraussetzt und daher nicht selten zugunsten einer unreflektierten Ablehnung oder einer kritiklosen Bewunderung unterbleibt. Solche ambivalenten Emotionen waren in der mit überwiegend Jugendlichen gefüllten Urania bei der Aufführung von „Kids” (Begie Larry

Clark, USA) ganz deutlich wahrzunehmen. Der Film zeigt 24 Stunden aus dem Alltag einer Gruppe von Teenagern in Manhattan. Sex, Parties und Drogen sind die bestimmenden Themen. Telly steht nur auf ganz junge „reine” Mädchen und schließt eine Wette ab, an diesem Tag gleich zwei (eine Zwölf- und eine Dreizehnjährige) deflorieren zu können. Doch inzwischen sucht ihn Jenny, die am Vormittag erfahren hat, daß sie nur durch ihn HIV-positiv geworden sein kann. Erschrecken und unheimliche Faszination über die Verlockungen und Abgründe eines solchen Alltags jenseits von Tabus und Grenzen bewegten sichtlich die zuschauenden Kids. Die Diskussion über den komplexen Umwandlungsprozeß, den eine dargestellte Realität durch den Vorgang der Gestaltung und Ästhetisierung erfährt, wird sich auch daran wieder entzünden können.

Vor dem Gewicht der Realität tut es also auch nach 100 Jahren noch gut, im Kino ab und zu ganz herrlich lachen zu können, ohne sich dabei für irgend etwas genieren zu müssen. Dieses seltene Kunststück gelingt „Babe” (Chris Norman, Aus/USA), der köstlich vergnüglichen Geschichte von dem kleinen Schweinchen, das sich mit den übrigen Tieren auf einer Farm unterhalten kann und damit für einige Turbulenzen sorgt. Die rundum gekonnte Gestaltung und die unaufdringlich ökologische Botschaft im Hintergrund erhöhen dabei den Genuß. Entdeckungsreisen durch die breite Filmpalette lohnen sich auch außerhalb von Festivals. Und die Kinovielfalt wird genau so lange überleben, solange es interessierte Zuschauer mit offenen Augen und wachem Geist gibt.

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