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Spatkurs zum Main

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DER ABEND IST VOLL DER ERINNERUNGEN. Jener Abend, an dem ich mit dem AUA-Spätkurs nach Frankfurt, Nummer OS 401, an Wien vorbei der untergehenden Sonne entgegenrase. Linker Hand versinken die Alpen in gelbroter, dann roter Pracht, zuletzt in einem unwirklichen Fahlblau als gespenstisches Zickzack am Horizont. Unter uns bleibt die Donau weg, und dann nehmen wir auch in der Richtung genau (Spät-)Kurs zum Main. Unten die ersten Lichter, ab und zu eine hellerleuchtete Dunstglocke als Markierung einer Stadt. Die Zeit vergeht schnell, fast zu schnell für die Bordverpflegung. Ein Zehntel der Reisezeit des Expreßzuges da unten — mattleuchtende Lichterschlange in der Finsternis — werden wir unterwegs sein. Und im Hinaussinnen zum Fenster kommen auf demselben Weg die Gedanken herein. Gedanken der Erinnerung...

Erinnerung zum Beispiel an die Superzweckmäßigkeit des „Rhein-Main“-Flughafens bei Frankfurt. Tatsächlich: bei Frankfurt, und man bittet der Lage von Schwechat (so weit von Wien) einiges ab, wenn man erst einmal vom Flughafen in die Mainstadt und/oder wieder zurück gefahren ist. Seit wir unser „Luftkreuz Südost“ so gekonnt und anmutig „in die Landschaft hineingelegt haben“, kann ich einen Nur-Zweck-Flughafen wie „Rhein-Main“ nicht mehr recht leiden. Abgesehen davon, daß man fast eine Gebrauchsanweisung braucht, um sich zurechtzufinden, ist auch im neueren Teil „möglichst, viel auf möglichst engem Raum möglichst ineinander“ untergebracht. Man vertröstete mich damit, im „ganz neuen“ Teil werde das alles ganz, ganz anders sein. Worauf ich mich an die „drangvoll fürchterlichen Enge“ von „Alt-Schwechat“ erinnerte und mich trösten ließ. Nicht ganz mit der Behandlung der Zuschauer, die man ganz ans Geländeende verlegte und sie, gleichsam im Winkerl stehend, von ferne dem ganzen Betrieb zusehen läßt.

„Unter dem Boden des Domes liegen noch erhebliche Fundamentreste der alten Salvator-kirche“, die immerhin bereits von Ludwig dem Deutschen irgendwann zwischen 840 und 870 gegründet wurde, heißt es im „Domführer“. Und der Dom ist Frankfurts Kaiserdom und die Zeit seither immerhin mehr als ein Jahrtausend. Tausend Jahre wie ein Tag: hier erlebt man es. Wie kurz ist hier mit einem Male die Zeit, die seit der „Goldenen Bulle“ verstrich, durch die Frankfurts Dom zum Kaiserdom wurde, zum gesetzlichen Ort der deutschen Kaiserwahlen, seit 1562 auch der Kaiserkrönungen. Und nicht nur in der Wahlkapelle, nicht nur angesichts des Domschatzes wird hier alte deutsche Kaisergeschichte lebendig. Die Krone liegt nicht „im tiefen Rhein“. Sie ist hier Gestalt, gläubige Gestalt eines Domes geworden, den auch der letzte Krieg nicht zerstören, nur versehren konnte. Und aus dem er — erneuert, verklärt — wieder erstand wie Phönix aus der Asche. *

NICHT ASCHE, ABER eine große Leere findet sich, wenn man wieder in die gleißende Helle des Domplatzes hinaustritt, das Herz und das Auge noch voll von all der Kunst- und Glaubensherrlichkeit dieses königlichen, kaiserlichen Gottesdomes. Einsam in ausgebombter und bislang nur eingeebneter Weite der Brunnen mit der irdischen, dahinter der Kirchturm als Sinnbild der göttlichen, der himmlischen Gerechtigkeit. Hier schweigt jede Frage nach Sinn und Unsinn, Schuld, Mitschuld und Nichtschuld. Hier weist alles nach oben, nach dem letzten Sinn aller Dinge. Und der gebombte, geschändete, eingeebnete Domplatz: Gleicht er nicht einem frischen, sonnen- und regenoffenen Acker, der auf neue Saat wartet? Keine Klage, keine Anklage mehr, sondern das karsamstägliche Warten auf den großen Morgen. Ein Domplatz, wie er kaum seinesgleichen hat.

„DARF ICH IHNEN EINE ZEITUNG BRINGEN?“ ruft mich eine freundliche Stewardeß aus Erinnern und Vorfreude wieder auf den komfortablen Sitz des Jets' zurück. Danke, nein, ich habe zu viele Gedanken von dort draußen, nach dort draußen, dort unten. Und bin schon wieder in der Erinnerung, immer noch im Dom. Diesmal bei der sonntägigen Frühmesse. Es war eine stille Messe. Weiß Gott, ich kann mich mit dieser Form der Herrenmahlfeier nicht recht befreunden. Zumal diesmal die Mitfeier der Gemeinde nur im Antworten auf die diversen „Dominus vobiscum“ (nicht viel mehr) bestand. Sagte mein evangelisches Nebenan nachher: „Ich bin enttäuscht. Mir kam das Ganze vor wie ein Bühnenstück, ein herrliches vielleicht, bei dem sich die Mitwirkenden aber nur die Stichworte zurufen. Wenn ich denke: meine erste katholische Meßfeier...“ Ich dachte es auch. Und wurde sehr, sehr nachdenklich. Und fragte mich, wie wenig Mühe wir uns doch geben, die Meßfeier uns selber — geschweige denn unseren Brüdern — zum Erlebnis zu machen ...

Wie ging es doch damals weiter, nach jenem etwas enttäuschten, enttäuschenden morgendlichen Anfang? Nun, es ist ja ein und derselbe Herr, gleichgültig, welche Feier wir Ihm bereiten. Aber... Sie verstehen. Und wir hatten ein gut Stück unserer Morgenfahrt in den Taunus darüber nachzudenken. Erst die herrliche Morgensonne, die uns auf Steinplacken empfing und verleitete, den Wagen stehen zu lassen und das letzte Stück auf den Feldberg zu wandern, erst Seine Morgensonne strahlte das letzte Restchen Traurigkeit fort. Und droben auf dem Gipfel war's „wie am ersten Tag“, strahlende Sonne und Landschaft rundum. Hier könnte man Stunden um Stunden mit halbgeschlossenen Augen ins Land hineinträumen und wieder zu sich finden. Dinge, die wir uns viel zu selten, viel zu wenig gönnen. Dinge, die uns weiterhelfen könnten.

WIEDER „ZURÜCK“ IM RIESENVOGEL und auf eine kurze Stippvisite vorn beim befreundeten Cap-tain im Cockpit (diese Fliegerei ist halt doch schon durch und durch „verenglischt“, aber das ist nicht Snobismus, sondern internationale Vereinfachung). Matt leuchtet die Instrumentenvielfalt, spielen die Zeiger auf den Skalen, bewegt der eingeschaltete „Autopilot“ fast unheimlich das Steuerrad und die Seitenruderpedale. Weit mehr als Jules Vernes kühnste Träume sind in Erfüllung gegangen und gehören schon zu unserem technischen Alltag. „Die Dinger werden mehr und mehr zu fliegenden Elektronengehirnen“, sagte einmal ein Kollege, „und wir haben alle Hände vor allem damit zu tun, Daten zu verarbeiten.“ Mein innerer Autopilot nimmt, als ich mich wieder in meinem komfortablen Sitz räkle, sofort wieder Kurs auf die Mainstadt und auf die Erinnerungen. Aber geht es uns allen nicht immer wieder so, daß wir nicht fliegen, sondern geflogen werden, will sagen: nicht leben, sondern „gelebt werden“...?

Schon eilen die Erinnerungen zurück und voraus, kreuz und quer durch Mainstadterinnerungen und -erlebnisse. Ich stehe wieder auf dem Lohrberg, hoch über der Mainstadt, wandere wieder durch Seggbach und Bergen mit den uralten Fachwerkhäusern. Eines davon hat man, weil's mitten im Verkehr stand, nicht einfach abgerissen, sondern sorgsam abgetragen und nebenan wieder aufgebaut. Stein für Stein, Stück für Stück. Das nenne ich Kunstsinn! Aber paar Schritte weiter gibt's etwas weniger davon, da hat der glückliche Besitzer solcher Fachwerkspracht auf das Dach seines Prunkstücks eine riesige, zweietagige Fernsehantenne aufgenflanzt wie einen Fichten-Dachgleichebuschen auf einen Neubau. Was er sich wohl dabei gedacht haben mag? Viel sicher nicht. Dabei ist er keineswegs allein damit ...

KEINEN GRÖSSEREN KONTRAST dazu kann man sich denken, als wenn man vom Nordwesten her in die Mainstadt kommt. Hier entsteht ein völlig anderes, völlig neues Frankfurt. Die Nordweststadt. Hier baut man aus dem Vollen und in un-erschlossene, weitoffene Leere hinein. Großräumig, modern, ungewohnt, wohnlich. Trennt reinlich die Altstadt, die alte Stadt, vom Neuen, vom völlig Neuen. Was dem eine Besatzungsmacht schon wieder ungewohnten Donaustädter auffällt: der „Odeur americaine“, das Gefühl, eine fremde Wehrmacht im Land zu haben. Nun, sie tritt nicht viel in Erscheinung, in ein paar Exklusiv-US-Lokalen und Sportplätzen, aber sie ist da. „Und sie könnte noch viel mehr ,da' sein, wenn's eines Tages als nötig oder zweckmäßig erachtet wird“, sagt man mir in Frankfurt mit leicht pessimistischem Klang.

Ein total zerbombter Stadtkern, in dem das historische Bauwerk gleichermaßen zerstört war wie das Geschäftshaus, das war das Erbe eines Wahnsinnskrieges. Doch war die Zerstörung gottlob nicht so drastisch wie im Fall Rotterdam, wo einfach nichts mehr übrigblieb. Hier blieb übrig, und man begann nun die mühselige, im Endeffekt aber wirkungs- und erfolgreiche Aufgabe des Nebeneinander-Aufbauens von Alt- und Neu-Frankfurt. Dem Besucher wird es immer wieder bewußt: gelungen, gelungen, gelungen! Kaum eine Stelle, wo irgendwo Stil gegen Stil grell abgesetzt erscheint. In Frankfurt hat man's zuwege gebracht, sozusagen „modern alt“ zu bauen. Was man sich auch an anderen Flüssen denn am Main überlegen sollte. Für den Fall, daß man alte Stadtkerne zu sanieren hat. Möglich, daß „Bauwerke“ im Emmentaler- oder Wolkenkratzerstil sparsamer und einfacher sind. Schöner sicherlich nicht, und im Kontrast wirken sie wie die Faust aufs Auge...

ALS ICH IN LUFTIGEN 7000 METERN HÖHE einen kleinen Erfrischungsdrink mir genehmige, muß ich mich unweigerlich an ein Stück „wirklich altes Frankfurt“ erinnern. Ungefähr so, wie man in Wien von Grinzing oder Nußdorf spricht, plaudert man am Main von Sachsenhausen, von der „Frau Rauscher in der Klappergasse“ (das nette Verslein rund um sie ist nicht völlig stubenrein, aber ...), vom „Äppelwoi“, von „Handkäs mit Musik“, wobei man bei letzterem Wort nicht gewohnheitsmäßig das „i“, sondern das „u“ zu betonen hat. Womit ich mich veranlaßt sehe, einen „Klappergassenführer in Kurzform“ zu schreiben. Zuerst: Sachsenhausen und seine Klappergasse ist nicht irgendwo draußen zu suchen, sondern einfach gleich am anderen Mainufer. Es ist, um es wienerisch zu sagen, „ein Katzensprung“. Und sieht eigentlich nicht viel anders aus als eben das alte Frankfurt. Als eben Gassen mit Bacchusfreuden auszusehen pflegen.

An unseren „Heurigen“ und auch wieder nicht erinnert man sich im ersten Augenblick, wenn man — vorbei an der „Frau Rauscher“, einem Brunnenweible mit ausgesprochen diabolischen Wasserkünsten ä la Schloß Hellbrunn — in eines der Klappergassenlokale eintrudelt. Tische mit frischfröhlicher Gesellschaft rundherum, nun, das gibt es nicht nur am Main. Bestellen Sie ja keinen Wein, sondern eben „Äppelwoi“, das ist also, zumindest wörtlich übersetzt, Apfelwein. Leicht säuerlich (manche machen nicht salonfähige Kommentare dazu), und wird in beachtlich großen Gläsern serviert. Wenn Sie keinen „langen Abend“ vorhaben, dann trinken Sie Ihr Glas ja nicht unvorsichtig aus. Selbiges wird als unausgesprochene Aufforderung zu neuem Nachschub aufgefaßt!

„... DANKE SCHÖN“, sagt auch gerade die Stewardeß im Bordlautsprecher, und — fluggewohnt — kann ich gerade noch rekonstruieren und aus den aufleuchtenden Warnschildern bezüglich Anschnallen und Nichtrauchen erkennen, daß es wieder einmal soweit ist und wir „in wenigen Minuten auf dem Flughafen Rhein-Main landen werden“. Ich habe alle Hände voll zu tun, weniger mit dem schon unzählige Male trainierten und simplen Einrastenlassen der Bauchgurtschnalle, sondern mit dem Sammeln, Sortieren und Sänftigen der unzähligen Erinnerungen, die da in der einen Stunde reiner Flugzeit wieder lebendig geworden sind. Und während unsere „Cara-velle“ in einem einzigen Vollkreis auf Landehöhe hinunterturnt, verwandelt sich in meinem Inneren der Spaziergang in die Vergangenheit zusehends in einen solchen in die Zukunft. In die allernächste Zukunft, die da — Wiedersehen mit der Mainstadt — aus dem abendlichen Dämmerdunkel millionenlichtschim-mernd auf uns zuwächst. Und auf die wir, wie von magnetischen Kräften gezogen, zuschweben. Vor mir liegt der Flughafen, liegt die alte Stadt am Main. Liegen auch — dessen bin ich sicher — neue Erlebnisse und Eindrücke in dieser so seltsamen, so vielgestaltigen, so herrlich-alten und herrlich-modernen Stadt am Main.

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