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Spielball des Schicksals

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Die Verleihung des Lessing-Preises der Stadt Hamburg im Vorjahr an Hannah Arendt lenkte die Blicke der geistig interessierten deutschen Kreise endlich wieder auf diese bedeutende Philosophin und Soziologin, die seit 1958 erster weiblicher Ordentlicher Professor an der New-Yorker Princeton Uni-versity ist. Hoffentlich kommt dieses in ihrer ehemaligen Heimat neuerweckte Interesse auch dem uns hier vorliegenden Werk zugute, das, bis auf die beiden letzten Kapitel, schon vor der Emigration der Autorin im Jahre 1933 geschrieben wurde.

Der Zeitpunkt der Entstehung des Buches bestimmte gewiß mit den Blickpunkt, von dem aus diese „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ entwickelt wird, die das herkömmliche, auf der Varnhagenschen „Platt- und Schönschreiberei“ (Arendt) beruhende Rahel-Bild wesentlich ergänzt und'veifwandelt.

„Was mich interessierte, war, Raheis Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können“, so sagt Hannah Arendt in ihrem Vorwort. Darüber hinaus aber ist diese Biographie, die „in dem Bewußtsein des Untergangs des deutschen Judentums“ geschrieben wurde, ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Juden überhaupt und der Problematik ihrer Assimilation, ein Kapitel also, das gerade heute Anteilnahme und Auseinandersetzung verdient.

Wir kennen Rahel Levin als Freundin nahezu des gesamten Kreises der Romantiker, als Gastgeberin auch eines der berühmtesten jüdischen Salons, in dem sich um 1800 alles traf, was Rang und Namen hatte in dem damaligen Berlin. In ihrer bescheidenen Dachstube in der Jägerstraße sprengte diese weder schöne noch reiche Jüdin einige Jahre lang die gesellschaftlichen Ordnungen und Konventionen ihrer Umwelt und faszinierte mit ihrer Gescheitheit, ihrer Lebendigkeit und Originalität die bedeutendsten Geister ihrer Zeit.

Diese Episode ist die eine, bisher so überbewertete Seite im Leben der Rahel. Hannah Arendt rückt eine andere in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Sie entwickelt, vorwiegend an Hand der zahlreichen Briefe und Tagebuchblätter Raheis, wie sehr diese Frau an dem Makel ihrer Herkunft, an ihrer „infamen Geburt“ — Rahel verwendet verschiedentlich diese peinliche Formulierung — gelitten hat, und wie ihr ganzes Leben von dem vergeblichen Bemühen beschattet ist, in jene aristokratischen Gesellschaftskreise als zugehörig aufgenommen zu werden, die der Jüdin verschlossen sind. Die Folge der Situation ist, daß Rahel „aus dem Judentum heraus“ will. Sie versucht die Assimilation auf vielerlei Weise, zunächst durch Heirat; aber zwei Verlobungen gehen auseinander und vertiefen nur noch ihre Isolierung, die Isolierung eines Menschen ohne Tradition — denn die ihres Volkes hat sie aufgegeben —, ohne Stand, ohne Stellung in der Welt, und folglich ohne Schutz. „Produkt der Umstände“, Spielball des Schicksals, eine „Geschobene“, ohne Freiheit des Handelns, das ist sie! Aber Rahel gibt nicht auf nach diesen bitteren Erfahrungen und muß immer wieder erleben, daß die Umstände ihr nur die Rolle „zwischen Paria und Parvenü“ gestatten, auch nach der Heirat, nach der Namensänderung und nach der Taufe, nach all den verzweifelten und teils höchst fragwürdigen Zugeständnissen an eine Gesellschaft, für die sie eine Fremde ist und bleibt.

„Je weiter sie sich treiben läßt, je hartnäckiger sie auf ihren Rechten, Menschenrechten, besteht, je entschiedener sie ablehnt, das allgemeine Schicksal der Juden zu teilen und auf politische Maßnahmen, die allen zugute kommen sollen, ihre Hoffnung zu setzen, desto typischer jüdisch wird ihr Schicksal, desto einleuchtender für den Beschauer — und schließlich auch für sie selbst —, daß sie allen Leuten zum Bewundem deutlich vorexerzierte, was alles ein Jude anstellen kann, ohne aufzuhören, ein Jude zu sein. Alle Wege, die in die fremde Welt führen könnten, ist sie entlanggelaufen und auf allen Wegen hat sie ihre Spur hinterlassen, sie zu jüdischen Wegen, Pariawegen, gemacht, endlich ihr ganzes Leben zu einem Stück jüdischer Geschichte in Deutschland. So versteht sie schließlich ihr ,ganzes Schicksal als ein historisches, nicht abzuwendendes, alttestamentarisches, ja als den Fluch, dem die Kinder seiner Anhänger vergeblich auf allen Erdpunkten entfliehen'.“

Dies wäre eine furchtbare Geschichte, wenn nicht die Vergeblichkeit all ihrer Versuche Rahel zuletzt doch noch, über Resignation und Bitterkeit hinaus, zum befreienden „Ja“ zu ihrem Schicksal geführt hätte. Heines Versprechen, „für die Sache der Juden und ihre bürgerliche Gleichstellung enthusiastisch“ zu Hjefa, wird ihr' zum Lichtblick in bihrtn späten lahren, und auf dem Totenbett bekennt sie:

„Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, als eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis macht ich das jetzt missen.“

Hannah Arendt erweist sich in diesem Buch nicht nur als kluge Interpretin des Schicksals einer ungewöhnlichen Frau. Sie weiß auch die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte der Zeit lebendig und farbig heraufzubeschwören, und ihre knappen Charakteristiken einiger Freunde Raheis sind kleine Kunstwerke für sich. Man stellt wieder einmal betroffen fest, welche unersetzlichen Kräfte der Naziterror in die Verbannung getrieben und wie er das deutsche Geistesleben verarmt hat.

Dr. Anneliese D empf

21 JAHRE BEI DEN KANNIBALEN. Von P. Andre Dupeyrat. Aus dem Französischen übertragen von Adolf Heine-Geldern. Verlag Herold, Wien-Mühchen 1960. 173 Seiten. Preis 69 S.

Man braucht bestimmt starke Nerven, um dieses Buch zu Ende zu lesen. P. Dupeyrat hat hier Kapitel geschrieben, die von der gängigen Missionsliteratur hart und schroff abstehen. Das Leben des Missionärs, des Europäers, der immer wieder auf Buschtouren zu seinen großen Klassikern greift, um nicht in dem Grauen seiner Umgebung zu versinken, und der sich doch mit verzweifeltem Heroismus bemüht, seinen Menschenfressern ein und alles zu werden, steht erschreckend vor dem Leser. Neben diesem Missionär, um ihn herum und tief in ihm und seinem Herzen stehen die Menschen, die heute noch mitten in der Steinzeit leben, die in furchtbare Greuel versunken sind, in Angst, in innere und äußere Sklaverei, weil sie die Maßstäbe verloren haben. Menschen, für die das Christentum die Erlösung ihres ganzen Lebens bedeutet, die es mit der Aufmerksamkeit von Kindern in sich aufnehmen und doch nicht die Kraft haben, es zu leben. Die Jahrtausende, aus denen sie herausgewachsen sind, gehen als unheilvolles Erbe mit ihnen und werden sie nicht so schnell verlassen.

All das wird in den locker, ohne alle sentimentale Erbaulichkeit zusammengefügten Kapiteln mit einer Wucht und Härte lebendig, die schockiert. Aber hinter allem steht auch der Mensch, Andre Dupeyrat, der sich freut an der tropischen Pracht Neuguineas, am Spiel des Paradiesvogels, an dem Vertrauen und der Liebe seiner — ach so wankelmütigen — „Schäflein“, die er immer wieder trotz aller Greuel in Schutz nimmt, weil er sie liebt! Hinter allem steht der Missionär und Priester, und er spricht für die 30.000, die neben ihm stehen und das gleiche harte, schwere Leben führen, das uns irgendwie beunruhigt. Jeder, der dieses erschütternde Buch gelesen hat, wird etwas von der Größe und Weltverantwortung ahnen, zu der Gott uns Christen berufen hat.

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