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SPRECHERIN DES STUMMEN CHORES

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Wenn man im Herbst nach Oberstdorf kommt, scheint es, als ob die Gebirge keinen Schnee trügen, sondern Blütenkränze. Die Wiesen sind noch frischgrün. Vielleicht besitzt der Ort wenig Charakter, wenig Atmosphäre. Aber die Berge drängen heran, sie neigen sich herab, sie besitzen leidenschaftliche Bewegtheit. Und diese Bewegtheit prasselt gleichsam auf die Dächer nieder, trommelt gegen die Fenster, und der Atem der Höhen strömt frisch durch die Gassen.

Das Haus, in dem die Dichterin wohnt, liegt an der Peripherie des Ortes; bis man es findet, vergeht Zeit, und das ist gut, denn es bedarf einer Vorbereitung, dieser besonderen Frau — dieser Dichterin katexochen — gegenüberzutreten. Ich gehe einem rauschenden Bach entlang. Goldfarbene Lärchen, Fichten und Ahorne klettern die Hänge empor. Schon einmal hatte ich das Glück, bei Gertrud von le Fort eingeladen zu sein. Damals gingen wir kleine, verschwiegene Pfade, durch Wiesen und Wälder, drei Stunden lang. Es ist noch nicht lange her, erzählte sie mir von ihrer so überaus glücklichen Jugend. Schon sehr fiüh begann sie zu dichten, und die Mutter bewahrte ihre Verse auf. Die kleine Gertrud wuchs in höchster Freiheit auf. Es gab da Fohlen zu füttern, die jungen Enten vor dem Habicht zu behüten und auf Heuwagen mitzufahren. Diesen Hang zur Freiheit, zu einem ungebundenen Leben in der Natur, bewahrte sich die Dichterin. Ihr vielgewandertes Geschlecht flüchtete zur Zeit der Gegenreformation aus Savoyen nach Genf, wo alle Glieder der Familie noch heute das Bürgerrecht besitzen. Über die Nachkommen des im Dienst Peters des Großen stehenden, berühmt gewordenen Admirals Franęois le Fort kam die Familie im Zuge des nordischen Krieges nach Deutschland und erwarb dort Landbesitz in Mecklenburg. Durch den Tod des Vaters wurde eine Idylle zerstört, die Mutter lebte viel auf Reisen, und das Kind lernte fremde Länder kennen. Ein tiefes Erlebnis war Rom. Dann studierte das junge Mädchen in Heidelberg auf der Universität. In Bayern, wo sie zuerst im Isar-Tal, später in Oberstdorf lebte, nahm ihr Entschluß zum Eintritt in die katholische Kirche Gestalt an.

Ihr Leben reifte in einer schicksalsschweren Zeit. Unter der historischen Einkleidung ihrer Dichtung findet man stets die Spuren dieser Zeit, in die ihr Leben gestellt war. Stets handelt es sich aber um überzeitliche Probleme. Der Mensch — so sagt Gertrud von le Fort — bleibt sich als solcher im wesentlichen immer gleich. Der historische Roman, in dieser Sicht verstanden, kann eine diskrete Form des zeitnahen Romans darstellen. Ja, von hier aus kann der Dichter den geheimnisvollen Auftrag empfangen, mit einer Vergangenheit fertig zu werden, mit der -die Generation seinerzeit ;nichfelerti| yjurdę.

Die „Hymnen an die Kirche bejįišfėffen einen der größten Dichter Frankreichs: Paul Claudel! Das weiße Licht, die blutigen Schatten in der Novelle „Die Letzte am Schafott”! Diese leidenschaftlich-beherrschte Sprache! Welche Vielfalt der Themen! Nahe sind die fernen Jahrhunderte, nahe auch unser Jahrhundert. Das Buch: „Die Frau und die Technik” lehnt keinesfalls eine Technik ab, die uns das Leben erleichtern könnte. Die Dichterin fragt sich nur: Ist der Mensch seinen eigenen Erfindungen und Triumphen gewachsen? Kein Zweifel, es gibt eine Gefährdung, sagt sie, die von einer geistig nicht bewältigten Technik ausgeht!

Triumph eines junggebliebenen Herzens: Gertrud von le Fort ist überhaupt nicht gealtert! Über der hohen freien Stirn wölbt sich das dichte Haar in einer schimmerndgrauen Welle, und glücklich-betroffen stelle ich fest, daß dieses Augenpaar keinem gleicht, das ich kenne. Es sind strahlende, weitgeöffnete Augen: die ganze glückselige Kindheit spiegelt sich darin, prangende, festliche Jugend! Schon der weise Tschang-Fu sagte, daß es am Menschen selbst liege, sich jung zu erhalten, bewegte Liebe erhalte ihn jung.

Ja, da ist die ganze Landschaft ihrer Kindheit in diesen Augen: blumige Wiesen und das Gold der Felder. Es ist nicht leicht, die Dichterin dazu zu bringen, über sich selbst zu sprechen, und es kommt ihr gelegen, daß der löwengelbe Kater Bobby, der sich selbst die Türen öffiiet, nun auf den Tisch springt und zärtlich begrüßt werden will. In ihrem Haus herrscht ein ungezwungener, äußerst unkonventioneller Ton: Von Seiten der resoluten Haushälterin gibt es eine Strafpredigt, weil ihre Herrin das Mittagessen zuwenig beachtet hat. Es zeigt von großer Herzenswärme, daß Gertrud von le Fort bei Gesprächen oft ihre Hausgenossen, so auch die junge Sekretärin, freundschaftlich einbezieht.

Der Dichter, sagt sie, erscheint als Sprecher eines stummen Chores, er fängt die Sehnsucht der Sprachlosen auf, die Seufzer der Natur und der menschlichen Seelen, die Klage der Toten und den Triumph der Heiligen - jede Stimme kann ihm anvertraut werden, aber in diesem Auffangen des ihm Anvertrauten vollendet und erfüllt er sich selbst. Dichtung ist eine Form der Liebe. Ja, Geschichten denkt man sich nicht aus, meint sie, sie überfallen einen. Dieser Ruf ist, wenn er ergeht, nie zufällig, der Dichter hängt gerade im Unterbewußten und Absichtslosen mit seiner Zeit und ihren Forderungen zusammen. Er tut es auch dort, wo sein Auftrag in die Räume der Vergangenheit zurückgespiegelt ist.

So hat Gertrud von le Fort auch das Historische nie als eine Flucht aus der Zeit empfunden, sondern als jenen Abstand, von dem aus man die Zeit schärfer erkennt, so wie man charakteristische Linien eines Gebirges erst dann wahrnimmt, wenn man nicht zu nahe ist. Das Hervortreten der Frau in ihren Werken hat nichts mit vordergründigen Frauenproblemen zu tun; die Dichterin weiß, daß in zwei Weltkriegen von unerhörter Grausamkeit die Überbetonung männlicher Kräfte stattfand. Von daher ist auch ihr Buch „Die Tochter Farinatas” zu verstehen. Die kleine, machtlose Bice, die ihre Vaterstadt rettete. Und Anna Vitre, die den Haß ihres Volkes überwindet und dem Kind des Feindes das Leben schenkt. Auch die Verfemte gehört dazu, die junge, brandenburgische Witwe, die dem schwedischen Kornett den rettenden Weg über das Moor zeigt. Farinata sagt: „Eines Weibes Tränen bedeuten wenig, und auch eines Weibes Barmherzigkeit — aber wenn der Mann barmherzig wird, dann bewegt sich die Welt.”

Wir sprachen über christliche Dichtung. Le Fort verlieh ihrer Überzeugung Ausdruck, daß im Dichterischen selbst ein christliches Element stecke, ähnlich der „anima humana naturaliter Christiana” Teitullians. Große Dichtung bemüht sich selten um erfolgreiche, vom Glück begünstigte Gestalten, sie hat eine unwiderstehliche Neigung, sich der Unglücklichen und Verirrten anzunehmen, ja, sogar der Gescheiterten und Schuldiggewordenen Kein dramatischer Held, der nicht ein Schuldiger wäre! Das Wohlgeratene, das Geglückte und Heiliggebliebene reicht dem Dichter nur geringe Möglichkeiten dar — es sind die tragischen Gestalten im Einzel- und im Völkerleben, welche die großen Gesänge rufen. Dies aber bedeutet doch nichts anderes, als daß im Reich der Dichtung eine Umwertung stattfindet, sie liegt auf derselben Linie wie die des Christentums. Denn dieses, auf eine ganz einfache Formel gebracht, bedeutet doch die An- erkennnung einer weithin gescheiterten und verlorenen Welt und zugleich die große erlösende Gottesliebe zu ihr. „Und so hat denn auch alles Furchtbare, das wir heute Lebenden in zwei Weltkriegen erfuhren, meinen Glauben an den Menschen nicht ganz auszulöschen vermocht.” — Der Kampf um das Menschliche ist nie vergebens, auch wenn ihm äußerlich kein Sieg be- schieden ist!

Ein wunderbarer Abend, da wir über die Wiesen gehen, die Gebirge sich makellos erheben, und man weithin das kindlichfröhliche Geplauder des Bergbaches vernimmt. Alles ist zeitlos und alterslos — auch sie, Gertrud von le Fort, erscheint mir völlig alterslos, von jener seltsamen Jugendkraft erfüllt, die zuweilen auserlesenen Geschöpfen zuteil wird.

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