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Stalins Tod ...

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In drei, einander fast gleich langen Abschnitten seines Erdenwallens hat der Enkel leibeigener grusinischer Bauern, der Sohn eines armen Schusters und einer Wäscherin, sich zum früh durch Taten beglaubigten Revolutionär Koba („der Unbezwingbare“) herangebildet — 1879 bis 1904 —, sich dann als Kämpfer, der den Klassenkriegsnamen Stalin („der Stahlharte“) führte, zuerst gegen die Feinde seiner Partei, dann gegen die Rivalen innerhalb der Partei durchgesetzt — 1905 bis 1929 —, endlich sich zum unbestrittenen Machthaber eines von ihm geschmiedeten Weltreiches erhoben, dieses siegreich wider den furchtbarsten äußeren Ansturm verteidigt und ihm die Hegemonie über zwei Fünftel der Menschheit errungen. In diesem reichen Leben hat Stalin zwei, scheinbar einander widersprechende Eigenschaften bewiesen, die man als die entscheidenden Hauptzüge seines Wesens ansehen soll: einen glühenden umstürzenden Schwung, der vor keiner Härte, vor keiner Grausamkeit, vor keiner Beugung dessen zurückscheute, was anderwärts als heiligstes Recht betrachtet wird, und eine weise, staatsmännische Mäßigung, die ihn davor bewahrte, Mut mit Uebermut, Festigkeit mit sinnlosem Eigensinn zu verwechseln.

Diesen beiden Eigenschaften, ihrer richtigen Dosierung dankte Stalin vordringlich seine Erfolge. Er scheute vor keinem Risiko zurück, wenn ihn das nötig dünkte, und das ohne Rücksicht auf die dabei fallenden Opfer, ohne auch nur einen Augenblick zu zagen oder gar zu verzagen. Er bestätigte seine Kühnheit, die aber nie in Tollheit ausartete, als er nach dem Ende des „warmen“ Krieges sich in den Jahren des kalten Krieges ein osteuropäisches Land nach dem anderen gefügig machte, als er in Asien den Kampf der Kolonialvölker unterstützte und dabei bis an den Rand eines dritten Weltkrieges geriet.

Doch darin gipfelte eben seine Staatskunst, daß er im kritischsten Moment- sich selbst ein „Bis hierher und nicht weiter“ zurief. Er war mit Lenin eines Sinnes, als dieser der Revolution die Pause der NEP auferlegte. Er warnte unablässig vor dem Abenteuer einer Weltrevolution in Permanenz, das seinem Antipoden Trotzkij Dogma war. Er sprach vom friedlichen Nebeneinander zweier Welten, der sozialistischen und der kapitalistischen, und er war bereit, diese Worte solange zur Wahrheit werden zu lassen, als ihre Verleugnung den Aufbau der UdSSR verhinderte. Er hat die Allianzen mit westlichen Demokratien, in den Jahren 1935 und 1936, dann später den Pakt mit Hitler vom August .1939 geschlossen, um seinem Lande die Zeit der Sammlung zu verlängern. Er ist während des kalten Krieges dreimal zurückgewichen, ohne sich um Prestigefragen zu kümmern: in Persien, in Berlin und in Fernost. Jedesmal, weil sonst der dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre, den er, wenn nicht auf immer zu vermeiden, so doch solange wie möglich hinauszuschieben trachtete.

Nicht aus - kindhafter Güte und bloßer Menschenliebe, doch aus sehr realen • Erwägungen. Die Sowjetunion hat zwar ihre äußere Machtausdehnung einem von ihr nicht entfesselten, doch von ihr erfolgreich durchgekämpften Weltkrieg zu danken. Ihr innerer

Aufschwung, der seit etwa 1929, als die Wunden des Bürgerkrieges vernarbt und die Machtkämpfe in Moskau beendet waren, zu verzeichnen ist, dieser wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fortschritt, dem die einander folgenden Fünfjahrespläne den vorgezeichneten Rahmen geben, ist indessen durch das schwere Ringen der Jahre 1941—1945 unterbrochen worden. Er hat sich erneuert und verstärkt, doch ihm wäre bei einem nochmaligen bewaffneten Konflikt — mit den USA — wiederum ein rasches Ende verhängt. Diesen Zusammenstoß zu vermeiden war Stalin um so mehr bemüht, als die Sowjetunion zu den glücklich Besitzenden gehörte, die von einem Weltkrieg mehr zu verlieren als zu gewinnen hatte; dazu kam, daß Stalin, wie er in einer seiner letzten Schriften darlegte, mehr auf Uneinigkeit im nichtkommunistischen Lager und auf die Selbstzersetzung der kapitalistischen Welt rechnete, denn auf einen Zusammenstoß mit ihr. Die in Angriff genommenen und die bereits vollendeten großen Friedenswerke der Stalin-schen Aera sind eindrucksam. Ihr materieller Fortschritt und die dem Volk vermittelte Disziplin ist freilich auf Kosten von mancherlei hohen Gütern geschehen. Zum ersten hat der dialektische Materialismus, eine unserer christlichen i Ueberzeugung widersprechende Weltanschauung, die zudem mit der objektiven wissenschaftlichen Wahrheit in Widerspruch berrarrt, verpflichtende Gültigkeit erhalten. Zweitens, jede von diesem System der Marxismus-Leninismus-Stalinismus abweichende Ansicht wird zum Verbrechen gestempelt; der darauf beruhende Konformismus hindert viele Zweige des geistigen Schaffens an freier Entfaltung. Drittens, dem Zwang, der Geschichtsforscher, Biologen, Philosophen, Literaturhistoriker in gleicher Weise wie Dichter, Maler, Filmleute auf eine von oben her bestimmte Generallinie ausrichtet, tritt noch schmerzlicher und weit Zahlreicheren fühlbar, das — übrigens altrussische — Polizeisystem hinzu, dessen mildeste Form sich in der Behinderung der Freizügigkeit, in der aufgenötigten Teilnahme an zahllosen Massenveranstaltungen und in der Gleichschaltung der Lebensweise bekundet, das aber in seinen letzten Konsequenzen zur Rechtlosigkeit des einzelnen, zur „sozialen Umerziehung“ in den Konzentrationslagern und zu den Schauprozessen, zur Obmacht der General-prokuratur und der anderen Sicherheitsorgane führt. Viertens, obzwar die Zeiten der offenen Verfolgung vorüber sind und der Staat wenigstens der Orthodoxen Kirche eine, enthusiastisch verdankte, Freiheit des Kultes, deren Hierarchen Achtung und Einkünfte beläßt, geht der Kampf gegen die Religion weiter; unter ihm leidet die katholische Kirche am meisten. Fünftens, die UdSSR und ihre Satelliten sind so gut wie vödig von der Außenwelt abgesperrt. Das bewirkt bei der Bevölkerung des Ostblocks seltsam verzerrte Ansichten über die kapitalistische Hölle jenseits des Sowjetparadieses. Stalin, der nur wenig im Ausland weilte, trug an dieser Tatsache vornehmlich die Verantwortung. Auf seiner,mangelnden Vertrautheit mit einer anderen Welt, die er — von einem Aufenthalt im kaiserlichen Oesterreich abgesehen — nur aus Büchern und später aus Berichten seiner Diplomaten und von Begegnungen mit Staatsoberhäuptern kannte, gehen die meisten Fehlurteile des oft so scharfsichtigen politischen Schriftstellers zurück.

Seine Werke, in vielen Millionen Exemplaren über den Osten verstreut, genießen dort das Ansehen eines Evangeliums, auf dessen unfehlbare Worte man sich zur Lösung aller Zweifel beruft. Auch in seiner literarischen Tätigkeit, deren Wert weniger im Formalen als im Inhalt wurzelt, hat Stalin seine beiden Haupteigentümlichkeiten bezeigt: revolutionären Eifer und maßvolle Klugheit. Es genügt, für das eine auf die wesentliche Arbeit „Probleme des Leninismus“ zu verweisen, für das andere auf die grundgescheite Abfertigung, die er den wider die Geschichte wütenden Historikern vom Schlag Pokrovskijs oder den in Narrheit versponnenen Sprachforschern von der Art Marrs zuteil werden ließ. Wie stark ^aber die Wirkung der Abhandlungen sein mag, in die Lenins Nachfolger seine Lehre, den Stalinismus, geborgen hat, Josif Vissarionovic' historische Bedeutung fußt auf den Handlungen, die er vollbracht hat; sie haftet an seiner Schöpfung, der zur Weltmacht gewordenen Sowjetunion.

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