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Starb Gott in Auschwitz?

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Eine in sich stimmige Geschichte des europäischen Judentums zu schreiben, ist nicht einfach. Bis auf Ausnahmen wie das zweibändige Werk von Friedrich Battenberg („Das europäische Zeitalter der Juden”, Darmstadt 1990) scheuen sich die Historiker vor dieser Aufgabe. Die meisten Darstellungen sind konventionell. In der Begel ist es die „nationale Perspektive”, die interessiert, also die Geschichte der Juden in Ländern, Regionen und Städten wie etwa Deutschland, Württemberg oder Berlin. Die Namen sind austauschbar.

Auffallend ist, daß bei den nach 1945 geschriebenen Darstellungen die europäische Sicht meist vernachlässigt oder überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Zum einen dürfte eine” Bolle gespielt haben, daß man meinte, nur die länder-, regional- oder lokalgeschichtliche Perspektive würde eine ausreichende Zahl von Käufern sichern. Zum anderen ist es tatsächlich schwierig, eine europäische Dimension zu entwickeln.

Barbara Beuys, Historikerin und Journalistin sowie Autorin einer Reihe historischer Sachbücher, ist das Wagnis eingegangen, eine breit angelegte europäisch-jüdische Geschichte zu schreiben. Kenntnisreich und anschaulich unternimmt sie in ihrem fast 800 Seiten umfassenden Werk einen Gang durch zwei Jahrtausende, der in der Antike beginnt, über das Mittelalter und die frühe Neuzeit bis in die Moderne führt.

Die ersten Kapitel sind gewissermaßen ein Prolog, der den Leser einstimmt, und zwar auf die Frage, was eigentlich Judentum heißt, was Judesein bedeutet. Barbara Beuys setzt, das mag manchen überraschen, bei der Offenbarung auf dem Sinai ein. Der Gott, so beschreibt sie zutreffend das jüdische Selbstverständnis, der durch Moses gesprochen habe, habe einen Bund gestiftet, aber auch eherne Gesetze, auf die jeder Jude verpflichtet ist, ob er will oder nicht. Barbara Beuys, die das hinter dieser Verpflichtung steckende Mysterium zu ergründen sucht, führt es zwar nicht aus, ahnt aber, daß das für Juden selbstverständliche „sichron awotej-nu” („Eingedenk sein unserer Väter”), die Vorstellung also, daß jeder Mensch in einer Kette des Blutes und der Erinnerung steht, das Uberleben des Judentums durch die Jahrhunderte gewährleistet habe.

Jüdische Geschichte beginnt nicht irgendwann und irgendwo in grauer Vorzeit, sondern hat einen bestimm-

baren, konkretisierbaren Anfang. Die Autorin hält sich an die religionshistorische Erklärung, die davon ausgeht, daß am Anfang der jüdischen Geschichte das Gotteswort stand, die Existenz des einen unsichtbaren Gottes also, der den Juden Gebote auferlegte und forderte, ihm bedingungslos zu gehorchen, ohne nach Gründen und Erklärungen zu fragen. Geschichte, wie sie hier gesehen wird, ist demnach vorherbestimmt und nicht vom Glauben zu trennen.

Folgt man diesem Ansatz, waren es die göttlichen Gesetze, die den Zusammenhalt der Juden ermöglichten. Die Historikerin ist bemüht, die Geschichte der Juden nicht entlang der Bruchstelle von Verfolgung und Unterdrückung zu schreiben. Hauptsächlich geht es ihr um die innerjüdische Perspektive. Das wiederum hat zur Folge, daß das Problem der Beligion und das Verhältnis der Juden zu dieser in der Darstellung eine besondere Bolle spielen.

Die Geschichte der Juden war und ist, wie es im Buchtitel heißt, zweifellos Heimat und Hölle zugleich. Andererseits ist sie mehr als nur der stete, nicht vorherbestimmbare Wechsel von Höhen und Tiefen. Diese Geschichte ist zum ■— einen bestimmt von Glanz und Elend, zum anderen ist sie aber so vielfältig und bunt wie die Kulturen der Länder, in denen sich Juden nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 niederließen. Eine Darstellung dieser Geschichte darf diesen Aspekt nicht vernachlässigen und muß bemüht sein, die historischen Prozesse und deren unterschiedliche Verläufe in den jeweiligen Ländern im Blick zu behalten.

Was ist damit gemeint? Juden breiteten sich über ganz Europa aus. Sie lebten in Spanien, Frankreich, England, Italien und Deutschland. Neben dem Hebräischen als Gebetssprache sprachen sie als Alltagssprache Latein oder Griechisch, Arabisch oder Spanisch, Französisch, Deutsch oder Italienisch. Sie verstanden sich als Teil der jeweiligen Umgebungsgesellschaft, von der sie sich in Sprache, Kultur und Kleidung kaum oder gar nicht unterschieden. Das hinderte aber nicht, daß sie Phasen der Akzeptanz und solche der Verfolgung und Vertreibung durchleben mußten. Diese Phasen konnten nacheinander, aber auch parallel verlaufen. So konnte es geschehen, daß Juden aus man-

chen Ländern vertrieben, zur gleichen Zeit in anderen aber geduldet wurden.

Der Leser erfährt aber nicht nur über die unterschiedlichen Verläufe jüdischer Geschichte in den einzelnen Diasporaländern, sondern lernt auch jene Männer und Frauen kennen, die in diesen eine Bolle gespielt und jüdische Geistigkeit in herausragender Art und Weise verkörpert haben, wie zum Beispiel der berühmte Babbi Gerschom ben Jehuda in Mainz, der gelehrte Raschi in Troyes, der spanische Dichter Salomo ibn Gabirol oder der in Amsterdam wirkende Manasse ben Israel und die Kauffrau Glückel von Hameln, alles wohlgemerkt Gestalten und Persönlichkeiten, von denen die Autorin zu Recht meint, sie seien zwar in verschiedenen Ländern beheimatet gewesen, aber dennoch „alle Teil einer gemeinsamen Geschichte aller Europäer”.

Aus der europäischen Perspektive zerfällt das Bild von den angeblich passiven Juden, die durch die Zeiten alles mit sich hätten geschehen lassen. Jüdische Geschichte ist nicht durchgängig eine Geschichte der Verfolgung und Leiden gewesen. Das ist eine nach 1945 entstandene Sicht, die mit der Erfahrung von Auschwitz zusammenhängt und das Bild der Beziehungsgeschichte zwischen Juden und NichtJuden in einer Weise verzerrt, daß der in diesen Fragen nicht Vorgebildete fast zwangsläufig zu der Ansicht gelangen muß, auf den Juden laste eine Art Kainsmal, dem sie sich nicht entziehen können. Unnötig im übrigen zu sagen, daß die Vorstellung der Juden als Leidende und Opfer zutiefst in christlichen Überzeugungen wurzelt.

Es gab durchaus Zeiten, in denen Juden von ihren christlichen Nachbarn geachtet und integriert wurden. Das frühe Mittelalter zum Beispiel war eine solche Epoche ohne soziale Isolation. Barbara Beuys stellt Zeugnisse jüdischen Lebens aus dieser Zeit vor, wie sie aus der christlichen Mehrheitsgesellschaft nicht überliefert sind. Sie zeigt damit eine Lebens welt, die ihre eigenen Gesetze, Werte und Verhaltensnormen hatte. Das friedliche Zusammenleben mit den Christen gehörte genauso dazu wie die Angst, von diesen verfolgt zu werden. Letzteres war zwar nicht die Begel, aber auch nicht die Ausnahme.

Aus den Gutachten der Rabbinen, die die Autorin für ihre Darstellung

heranzieht und aus denen sie zitiert, erfahren wir von den Problemen des jüdischen Alltags, der bestimmt war von Angelegenheiten des täglichen Lebens wie Ehestreitigkeiten und Erbschaftsangelegenheiten, Steuerklagen und Nachbarschaftskonflikten. Dieser innerjüdische Zugang eröffnet uns, wie schon angedeutet, eine eigene Welt und macht deutlich, daß die jüdische Geschichte nicht allein mit den Augen eines Christen oder etwa nur aus der Verfolgungsperspektive betrachtet werden kann. Das würde die Realität jüdischer Existenz verzeichnen.

Diese Existenz ist nach Ansicht von Beuys aber nur dann halbwegs begreifbar zu machen, wenn das jüdische Selbstbild und die jüdische Welterfahrung die ihnen gebührende Berücksichtigung finden.

Wie soll das geschehen? Zugestandenermaßen ist jüdische Existenz schwer definierbar. Sie verändert sich fortwährend, und zwar entsprechend den Einflüssen und Umständen, denen die Judenheit in Europa ausgesetzt war und ist. Zweifellos war die entscheidende Weichenstellung der Einbruch der Moderne. Aufklärerischer Universalismus und Bationalis-mus löste in der jüdischen Welt erdbebengleiche Veränderungen aus.

Männer wie Uriel Acosta und Ba-ruch Spinoza, die an der Offenbarung zweifelten und in neuen Kategorien zu denken begannen, begründeten mit ihren nonkonformistischen Anschauungen jene Ahnenreihe jüdischer ketzerischer Traditionen, zu der Heinrich Heine, Karl Marx, Karl Kraus ebenso wie Bosa Luxemburg, Leo Trotzki, Sigmund Freud und viele andere gezählt werden können.

Das Buch endet pessimistisch, so

wie es pessimistisch begonnen hat. Barbara Beuys hat ihre Darstellung mit Auschwitz angefangen und beschließt ihren Gang durch die Geschichte des europäischen Judentums mit der Erinnerung an die Hölle der Vernichtungslager. Ist Gott in Auschr witz gestorben? Niemand weiß es. Barbara Beuys äußert sich sehr behutsam. Was soll sie zu dieser Frage auch sagen? Fest steht jedenfalls, daß Gott nicht da war, als die Juden ihn brauchten. Das Schweigen der Ermordeten lastet auf der jüdischen Gegenwart.

Beklemmend liest sich die Schilderung jenes kalten Januartages 1995 in Auschwitz-Birkenau, an dem der Jerusalemer Kantor Mosche Stern zu Beginn der Gedenkfeier mit bebender Stimme für die ermordeten Glaubensbrüder das Totengebet „El Mole Rachamim” vortrug: „Erbarmungs-voller in den Höhen thronend, / Lasse vollkommene Ruhe finden / Unter den Fittichen Deiner göttlichen Gegenwart / Im erhabenen Reiche der Heiligen und Reinen, / Die im himmlischen Glänze leuchten: / Alle Seelen der sechs Millionen, / Die in der Schreckenszeit in Europa / Erschlagen, umgebracht und verbrannt wurden / Und die ihre Seelen in Heiligung des / Göttlichen Namens aushauchten: / In Auschwitz, Bergen Belsen, Majdanek, Treblinka / Und allen anderen Vernichtungslagern ...”

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