Starke Frauenfiguren ohne Klischees

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Barbara Frischmuths Roman "Der Sommer, in dem Anna verschwunden war" nimmt Stellung zu aktuellen Debatten über die "Zweite Generation" und das Kopftuch.

Barbara Frischmuth hat den Atem zum großen erzählerischen Bogen. Sie kann es sich leisten, dass der Titel den Ausgang der Handlung schon verrät. Wer verschwunden war, ist irgendwann wieder zurückgekommen. Und sie hat ein Anliegen, das sie nicht plakativ vor sich her trägt, aber immer präsent hält. Nicht nur durch ihre Übersetzungen aus dem Türkischen arbeitet sie seit Jahren an der Verständigung der Kulturen; sie entnimmt ihre Stoffe auch gerne den Schnittpunkten und Überlagerungsmengen der beiden Kulturkreise. Ihr neuer Roman nimmt ohne Anbiederung Stellung zu aktuellen Debatten über die "Zweite Generation" ebenso wie über das hochgeschaukelte "Kopftuch"-Problem.

Spektakulärer Auftakt

Barbara Frischmuth weiß genuine PR-Mittel der Literatur zu nutzten, wie den spektakulären Romanauftakt. Da zappelt eines Sonntags Morgen eine Frau im Baum, die ihr zusehen heißen Inimini, Ali und Omo, und die Baumkraxlerin ist Omama Irene, allerdings nicht im Apfel- sondern im Nussbaum. Damit ist klargestellt, die Familienverhältnisse dürften einigermaßen unorthodox sein. Inimini und Omo sind die Kinder der verschwundenen Anna, Ali ihr verstörter Gatte, und Irene ihre Mutter, die kommt, um nach dem Rechten zu sehen. Dafür ist sie eigentlich nicht ganz die Richtige, denn es war nicht die lebenslustige Irene, die ihre Tochter Anna aufzog, sondern die Großeltern und Irenes Freundin Emmi, heute die nachbarlich graue Eminenz der Familie. Emmi arbeitet seit Jahren daran, sich mit Bedacht zu Tode zu essen und hat es schon zu einer recht weitgehenden Unbeweglichkeit gebracht. Das wird sich im Lauf des Romans ebenso ändern wie einiges andere.

Als Anna vor vielen Jahren ihr Studium abbrach, den unscheinbaren Ali heiratete und in die heimatliche Kleinstadt zurückgekehrt ein biederes Familienleben begann, reagierte die umtriebige Mutter Irene verständnislos. Über Jahre scheint der gewählte Lebensentwurf für Anna der richtige gewesen zu sein. Bis sie eines Tages verschwindet. Dass Ali in seiner ruhigen Art fortfährt, die Kinder ebenso wie die alte Emmi zu umsorgen, zeigt nachträglich, dass Annas Wahl keineswegs schlecht war. Vorsichtig versucht der aufgeschlossene Ali auch auf die pubertierende Inimini einzuwirken, die plötzlich beginnt, die Koranschule zu besuchen und ein Kopftuch zu tragen. Ali wusste sich seiner neuen Umgebung anzupassen und pflegt den kleinen Rest an Sehnsucht nach der alten Heimat und den alten Traditionen im Kontakt mit einigen Freunden. In jüngster Zeit immer häufiger in Begleitung von Sohn Omo.

Etwa nach hundert Seiten eröffnet Frischmuth den zweiten Erzählstrang, der Züge einer Parodie auf die aktuelle Krimi-Manie aufweist. M. ist Fotoreporter, lernte Anna bei einer Reportage über bikulturelle Familien kennen und ist gerade dabei, eine völlig abgelegene Ruine für seine Zwecke zu adaptieren. Da er dabei mit größtmöglicher Heimlichkeit zu Werke geht, ist man lange Zeit überzeugt, den Mörder bei den Vorbereitungen seiner Tat zu beobachten. Doch die Ruine wird lediglich "Tatort" seiner heftige Amoure mit Anna.

Kontrastentwürfe

Wie im Titel angekündigt, endet Annas Ausbruch mit der Rückkehr. Nach einer Aussprache mit Ali, von der wir nichts erfahren, nimmt sie sozusagen offiziell Urlaub von der Familie und nimmt ihr Studium wieder auf. Hat die Entfremdung der Ehepartner mehr mit "normalen" Phänomen der Neuorientierung rund um die Lebensmitte zu tun, wurzeln die Probleme der Kinder eher direkt in der Problematik der Zweiten Generation.

Doch nicht einmal das ist ganz richtig. Eigentlich geht es in Frischmuths Roman um kontrastive Lebensentwürfe in der Generationenabfolge. So wie Anna mit der Entscheidung biedere Kleinfamilie statt intellektuelle Karriere einst den auf Selbstverwirklichung angelegten Lebensentwurf ihrer Mutter Irene ablehnte, versucht Inimini der toleranten religiöse Haltung des Vaters mit einer Rückkehr zur Orthodoxie zu begegnen.

Was Frischmuth immer wieder gelingt, sind starke Frauenfiguren, und dabei kommt sie ohne jedes Klischee aus. Weder Irene noch Emmi noch Anna sind Erfolgsfrauen. Sie sind voller Widersprüche und stehen als reichlich unrunde Charaktere vor dem Leser. Das macht sie bei aller literarischen Konstruiertheit, mit der Frischmuth in vielen ihrer Romane offen spielt, glaubwürdiger und interessanter als viele der Prosecco trinkenden Geschlechtskolleginnen. Sprachlich sind im neuen Roman Frischmuths einige Holprigkeiten stehen geblieben, die ein aufmerksames Lektorat vielleicht hätte einebenen sollen.

Der Sommer, in dem Anna verschwunden war

Roman von Barbara Frischmuth

Aufbau Verlag, Berlin 2004

367 Seiten, geb., e 18,90

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