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Statt einer Silvestergescliiclite

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Ein Freund rief mich mitten in der Nacht quer durch Österreich an und verlangte eine Silvestergeschichte. Idi muß ziemlich verschlafen gewesen sein, als ich zusagte. Denn jetzt bemerke ich, daß ich keine Silvestergeschichte schreiben kann. Dadurch ist — dafür habe ich Talent — eine komplizierte Situation entstanden.

Idi habe Reiche zusammenstürzen und wieder aufstehen sehen, ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Idi habe Frau und Kinder. Und jetzt muß ich mein Wort brechen. Es ist völlig ausgeschlossen, daß ich eine Silvestergeschichte schreibe.

Der Leser hat einen durch Gewohnheit verbrieften Anspruch darauf, in der Silvesternummer seines Blattes eine Silvestergeschichte zu lesen. Die Redaktion meines Freundes hat das Recht, für das ehrliche Honorar, das sie mir zu zahlen bereit ist, eine ehrliche Silvestergeschichte zu bekommen. Und nun wird es geschehen, daß ungefähr hunderttausend Leser und eine Redaktion, die sich auf mich verläßt, um die Silvestergeschichte geprellt werden, die zu verfassen ich durch mein Wort gebunden bin.

Was verlangt die Allgemeinheit von einer guten Silvestergeschichte? Sie muß lustig sein, keck, aber nicht frivol, sinnig, aber nicht allzu verbindlich, ein wenig sentimental, aber nicht rührend. Jedenfalls leicht und beschwingt, wie es sich als Vorbereitung für eine muntere Silvesterfeier geziemt.

Sehen Sie, alle diese Dinge fehlen mir heute. Ich bin nicht keck, nicht munter, nicht sentimental, nicht sinnig. Ich bin nicht in der Lage, Menschen für eine Silvesterfeier vorzubereiten. Vor fünfzehn Jahren war es anders. Damals trank ich Schnaps aus Wassergläsern. Jetzt bin ich fünfunddreißig.

Mir fallen augenblicklich lauter abscheuliche Dinge ein. In meinem Hause wohnt ein Mann. Seine Frau, eine bildschöne Norwegerin, fuhr vor einem Jahr in ihre skandinavische Heimat, um in der Hut ihrer Eltern das erste Kind zur Welt zu bringen. Dem Hause fehlt etwas, seitdem sie fort ist. Ich verehrte sie immer ein wenig aus der Ferne. Ich dachte häufig darüber nach, welche Ahnung sie dazu getrieben haben modite, für ihre schwere Stunde zur Mutter zu flüchten. Jetzt weiß ich es. Sie wird nie wieder groß und schlank die barocke Treppe in unserem Hause herabkommen. Ihr Mann hat sich inzwischen mit einer anderen eingelassen. Ich habe manchmal Lust, ihn zu ohrfeigen.

Darüber läßt sich keine Silvester-, geschichte schreiben.

Daß die Hausmeisterin, diese starke, feste Person mit ■ graugrünen Augen, heute Nacht mit einem frisch geschliffenen Küchenmesser auf ihren Mann losging, daß er ihre Attacke mit dem Schürhaken beantwortete und daß beide jetzt mit verbundenen Köpfen umhergehen, mag ganz lustig sein, wenn man erfährt, daß solche Vergnügungen seit fünfundzwanzig Jahren zu dieser merkwürdigen Ehe gehören. Weniger lustig ist freilich, daß ein dreizehnjähriges Kind, ein schmales, großäugiges Mädchen, in einem Raum mit diesen Leuten atmet und schläft. Es hat dreizehn Jahre lang kaum einen Skandal, kaum einen Liebesbeweis und kaum einen der aus den tiefsten Abgründen der Kloake stammenden Ausdrücke des wahnwitzigen Paares versäumt. Unlängst sagte die Hausmeisterin: „Ich hasse Gott, weil er mir diesen Lumpen als Mann gegeben hat.“ Am gleichen Abend saß sie in der Kirche. Und nachher flüsterte sie hysterisch: „Ich kann nicht mehr beten. Ich muß immer fluchen.“ Und das schmale ' Mädchen beginnt sich seit neuestem, vielleicht um sich von dieser Atmosphäre der Besessenheit zu retten, mit fragwürdigen Burschen umherzutreiben.

Kann man darüber eine Silvestergeschichte schreiben?

Im Cafe sprach gestern ein Herr am Nebentisch vom Abendland und vom Krieg, der als eine apokalyptische Drohung die Menschen bis in die Träume hinein verfolgt. Und sein Gegenüber sagte, bebend und hilflos: „Mei Ruah wüll i harn!“ Kann man über die Ruhe, die diesem guten alten, diesem ohnmächtig wütenden Mann gestohlen wurde, der eine Menschenkategorie verkörpert, kann man über seine Welt, die immerhin eine Welt war wie andere Welten auch und sich nun endgültig in nichts aufgelöst hat, eine Silvestergeschichte schreiben?

Weihnachten hatte ich einige junge Künstler zu Tisch geladen. Einen Schriftsteller, eine Bildhauerin, einen Dramatiker, einen Musiker, eine Malerin. Sie waren hungrig und wir wurden alle satt. Ich schämte mich meines festen Einkommens. Als sie fortgingen, hatte ich das Gefühl, ich müßte mein Bündel schnüren und mit ihnen gehen, ihre grausame Not zu teilen. Grausame Not. Sie waren dennoch voll drängenden Lebens, wie Jugend eben ist. In ihren Augen aber glitzerte etwas, was der Jugend nicht erlaubt sein dürfte. Lebensangst. Der Zweifel, ob der Kosmos nicht doch eine seelenlose Maschine sei. Zuviel Zartes ist dieser Jugend zertreten worden. Idi bin nicht mit ihnen gegangen. Ich liebe meine Familie und muß bei ihr bleiben. Silvestergeschichte?

Wie viele Masken müßte ich anlegen, wie viele komödiantische Stellungen versuchen, um eine Silvestergeschichte mit Tanz und Musik, mit Sekt und Konfetti, mit Flirt und ulkigen Verwechslungen, mit Anmut, Grazie und handfestem Katerfrühstück zu schreiben! Das kann niemand von mir-verlangen. Ich glaube, das kann man heute von keinem ehrlichen Schriftsteller verlangen.

Ich werde jedenfalls eine Silvesterfeier besuchen. Eine jener großen Veranstaltungen, wo sich hunderte Menschen erhitzt in einigen Sälen drängen und wo die Musik ohne Unterbrechung spielt. Es kann sein, daß ich mich dort betrinken werde. Aber nicht deshalb gehe ich hin, sondern um festzustellen, wie die anderen es fertigbringen, Silvester zu feiern. Es muß etwas daran sein, an der Erwärmung durch Musik und Wein. Vielleicht liegt darin eine zu wenig beachtete, eine wichtige Kraft. Bruegel mag davon gewußt haben. Dieses vitale, blinde Leben, das jedenfalls fortlebt, das sich zusammenballt und wieder auseinanderfällt. Das am Ende immer wieder da ist, ohne über etwas nachgedacht zu haben. Das Stoff zum Nachdenken liefert.

Während ich darüber sinne, wird es mir zur Gewißheit, daß Gott es so angelegt hat, daß es zu Jeder Zeit eine große Zahl von Menschen geben muß, die gedankenlos einen guten Appetit entwickeln, gutmütig, manchmal bodenlos gierig und manchmal erschreckend freigebig sind, die sich vergnügen und dafür sorgen, daß die Menschheit nicht ausstirbt.

Mir fällt soeben ein, daß wir im Frühjähr ein kleines Grundstück, das meine Frau geerbt hat, umstechen und Gemüse und Blumen säen werden. Sagt man bei Blumen auch „säen“? Wahrscheinlich nicht, aber das ist schließlich gleichgültig, ich werde jedenfalls allerlei Samen in die Erde stecken und sorgen und hoffen, daß sie richtig aufgehen.

Das Stückchen Erde wird wie eine bunte Bauernschüssel sein, wie eine dieser derben, naiv bemalten irdenen Schalen. Der Wind wird in den Büschen flüstern und die Schale wird gutes Wasser aus den Regenwolken und heiße Sonnenstrahlen auffangen. Vielleicht gibt es Hasen in dem Gebiet. Dann müssen wir einen festen Zaun errichten.

Ist das etwa eine Silvestergeschichte?

Im Grunde ist es doch wohl so, daß alle Menschen, die nachdenklichen und die gedankenlosen, immer wieder ip irgendeiner Form Samen in die Erde stecken und hoffen und sorgen, daß sie lichtig aufgehen. Jeder auf seine Art, wie Menschen nun einmal 6ind. Ich glaube, jetzt bin ich auf der Spur einer guten Geschichte. Der Mensch, die Erde.

Aussaat, Regen, kindliches Vertrauen. Sonne, Sorge und Hoffnung. Dann die Ernte, die nie ausbleibt. Das alles müßte in der Geschichte enthalten sein. Und über all dem Gott, der manchmal enttäuscht aus den Wolken herabschaut, manchmal aber auch lächelnd.

Wenn die Äpfel reif sind, werde ich die jungen Künstler wieder einladen. Wer will, kann dann helfen, Erdäpfel graben. Am Abend werden wir ein großes Feuer entzünden und das dürre Kartoffelkraut verbrennen. Vielleicht wird das den Jungen gut tun. Die ganz kleinen und geringen Dinge sind es, die das Herz mit der schönsten Wärme erfüllen: ein Feuer, erdige Hände, schmerzende Rücken, einige Körbe voll Äpfel.

Vielleicht werde ich diese Geschichte einmal schreiben können, vielleicht in zehn Jahren, wenn ich etwas mehr innere Beschaulichkeit erwartet haben werde.

Oder vielleicht schon im nächsten Jahr? Wer weiß?

Für heuer ist es jedenfalls zu spät. Schade.

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