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Dieter Fortes Geschichten aus der jungen Bundesrepublik.

Wenn Dieter Forte vom Jazz der fünfziger Jahre erzählt, gerät er schnell ins Schwärmen. Da kennt er sich aus, das hat er alles erlebt, da zählt er uns alle bedeutenden Jazzer auf, die damals en vogue waren. Und natürlich kommt da auch "Fatty George aus Wien, ein Schrank von einem Kerl, der seine Klarinette mit großem Druck und vorgeschobener Hüfte spielte, neben ihm Oskar Klein, einer der glanzvollsten Trompeter Europas, mit nie endenden Solos ..." DieWerbung des Verlags macht uns von vornherein klar, worum es sich bei diesem Roman handelt: um ein Panorama aus dem "Deutschland in den fünfziger Jahren". Aber nur weil einer alle Jazzmusiker aufzählt, die in diesen Jahren Musik gemacht haben, oder in einem anderen Kapitel des Buches dann alle bildenden Künstler der Zeit auflistet, damit der Recherchefleiß bewiesen wurde, damit ist es ja nicht getan, damit erzählt man ja nicht das Lebensgefühl einer Dekade, das wird, trotz aller Werbesprüche, kein Riesenrundgemälde und auch kein Roman.

"Auf der anderen Seite der Welt" heißt das neue Buch des deutschen Autors Dieter Forte, geboren 1935 in Düsseldorf, heute in Basel lebend. Dieses Buch wird soeben vom deutschen Feuilleton gefeiert, und es ist auch leicht zu verstehen, warum: das heute von den schwersten inneren Krisen seit Ende des Krieges durchgeschüttelte Deutschland erinnert sich gerne an diese Aufbruchzeit, das so genannte deutsche "Wirtschaftswunder". Mein Gott, mit was für Problemen - Kriegsende, Zerstörung, alte Nazis, Besatzung, und all diese Schuldgefühle - ist man damals fertig geworden!

Dieses Buch hat glänzend geschriebene Kapitel, die man aber wie einzelne Erzählungen herauslösen könnte, wenn man nicht überhaupt vermuten muss, dass dieser Roman nur ein umgemodelter Erzählungsband ist, so bruchstückhaft kommt er daher. Die Proportionen der einzelnen Teile sind alles andere als gelungen zu bezeichnen und die große Klammer des Buches zerbröselt in der Mitte, bald hat man nur noch Splitter und Geschichten vor sich, die mit der Anlage des Buches wenig verbunden sind.

Die "andere Seite der Welt", damit ist ein Lungensanatorium auf einer Nordseeinsel gemeint, ein auswegloser Ort, lands end. Von hier kommen nur die wenigsten wieder ins Leben zurück. In diese große Sterbestation kommt der namenlose Ich-Erzähler, ein junger Mann, der sich an diesem Ort einrichten muss. Und während ringsum die Betten leer werden, weil die Patienten nach der Reihe sterben, berichtet uns der junge Mann von seinen Gesprächen mit ihnen. Sie finden alle statt im Angesicht des Todes. Vor uns entsteht ein eindrückliches Ensemble von wahrhaft kranken Figuren, sterbende Börsianer, die noch bis zum letzten Atemzug vom Aufbruch ihres Unternehmens plappern, fanatische Schachspieler, zwanghafte Hemdenzähler, stumme Sterbende.

Bevor wir aber das gewiss faszinierende Panoptikum dieses düsteren Sanatoriums wie auf einer Bühne erleben dürfen, müssen wir erst die Anreise des jungen Mannes mitmachen. Auf vierzig Seiten schildert Forte mit stilistischer Raffinesse und unglaublicher Umständlichkeit eine kurze Bahn- und Schiffsreise, und man wird den Eindruck nicht ganz los, der Autor wollte in dieser ersten Geschichte des Buches die Detailbesessenheit von Stifters "Witiko" übertreffen.

Wenn wir dann aber die Reise überstanden haben, erleben wir ausgerechnet an diesem apokalyptischen Ort, der eher an ein Straflager als an ein Erholungsheim erinnert, erfahren wir also da, wo unentwegt vom Sterben geredet wird, einiges vom Klima der jungen Bundesrepublik, von der Nachkriegszeit, von den neuen Karrieren alter Nazis, von dem viel gerühmten Aufbruch, auf den Deutschland heute so sehnsüchtig wartet, vom Jazz und den Abenteuern eines jungen Mannes in einer deutschen Stadt, die wohl Düsseldorf sein dürfte. Aber da haben wir das Romangefüge und damit die Lungenheilanstalt längst verlassen, und wir befinden uns mitten in einem über weite Strecken gut zu lesenden Erzählungsband, in dem auch wir Zeugen der "frühen Jahre" des neuen Deutschlands werden.

Auf der anderen Seite der Welt

Roman von Dieter Forte

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2004

342 Seiten, geb., e 20,50

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