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Sternstunden der Kunst

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Auf keinen Künstler - mit Ausnahme von William Shakespeare - waren und sind die Engländer so stolz wie auf William Turner, den Sohn eines Friseurs aus Covent Garden und einer Mutter, die im Irrenhaus starb”, schreibt der deutsche England-Kenner Heinz Ohff in seinem Buch „William Turner: Die Entdeckung des Wetters”. Mehr als 60 Jahre war Turner ein professioneller Maler, der sich, ehrgeizig und besessen von Fleiß, im Wettstreit gegen tote und lebende Maler einen legendären Ruf erwarb. Doch in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten, von etwa 1830 an, ging er, der konsequent mit Tausenden Aquarellen den Markt bedient hatte, ebenso konsequent einen Weg, welcher ihm bei seinen Freunden Unverständnis, in der britischen und ausländischen Öffentlichkeit Hohn und Spott einbrachte. Als er 1828 in Rom seine jüngsten Werke ausstellte, schrieb der Österreicher Josef Anton Koch zotenhaft „geschissen ist nicht gemalt”. Schon 1808 hatte ein deutscher Kritiker die „studienartige Sorglosigkeit” von Turners Malweise kritisiert. Die seriöse englische Zeitschrift „Athenaeum” fragte, ob Turner „einen Vorderlader mit Farben gefüllt und auf die Leinwand abgefeuert” habe.

Heute wären europäische und amerikanische Museen glücklich, hätten sie ein Turner-Rild in ihren Sammlungen. Doch außerhalb Großbritanniens ist der größte englische Maler kaum irgendwo zu sehen. Er verkaufte zu Lebzeiten seine Bilder an den reichen englischen Landadel und wohlhabende Bürger, also in liebende feste Hände.

In seinem Testament vermachte er alles, was in seiner Londoner Galerie in der Queen Anne Street 47 vorhanden war, dem britischen Staat, mit der Auflage, seine Werke dort zu erhalten. Sein Wille wurde nicht respektiert. Erst das Geld des Industriellen Sir Charles Clore ermöglichte es, der Täte Gallery, wohin der Turner Be-quest verbracht worden war, einen würdigen Anbau zu geben, errichtet von James Stirling, eröffnet 1982. Nur ungern und selten leiht die Täte ihre Schätze her. Und das zu Recht, denn Turners Werke sind heute in einem kritischen Zustand. Er wartete beim Malen, bis eine Schicht trocken war und malte erst dann weiter. So lösen sich heute die einzelnen Farbschichten - eine konservatorisch bedenkliche Situation. Dennoch ist es dem Direktor des Kunstforums der Rank Austria, Klaus Albrecht Schröder, gelungen, die erste Turner-Schau in der Geschichte nach Wien zu bringen. Es kann nur der ausgezeichnete Ruf dieses Mannes die Tate-Verantwortli-chen zu diesem Schritt bewegt haben, denn Schröder kann sich ja nicht durch eigene Leihgaben seiner Institution revanchieren.

Natürlich kommt nicht „der ganze Turner” nach Wien, doch werden jene zwei Aspekte, für die er heute besonders geschätzt wird, stark vertreten sein: das auf die Impressionisten weisende Spätwerk und die unvollendeten experimentellen Bilder.

Turner lebte in einer Zeit dramatischer Veränderungen. Als er 1775 in London geboren wird, fährt man mit der Postkutsche. In seinem Todesjahr, 1851, ist die britische Insel von einem dichten Eisenbahnnetz überzogen. Als fast Siebzigjähriger streckt er bei einer Zugfahrt im heftigen Gewitter neun Minuten lang den Kopf aus dem geöffneten Fenster, woraus 1844 eines seiner berühmtesten Bilder, „Regen, Dampf und Geschwindigkeit” entsteht, das den Aufeinanderprall des ländlichen und industriellen England dramatisch einfängt: vor der schnaubenden Lokomotive flüchtet ein kleiner Hase. Er wird Zeuge der Umwälzungen in der Marine und malt das erschütternde Bild des alten Kriegsschiffes Temeraire, das, ein lahmer Riese, von einem winzigen Dampfer zum Abwracken geschleppt wird. Der unermüdlich Reisende - jeden Sommer durchwandert er erst England und Schottland, später das europäische Festland, die Schweiz, Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien - sucht nach dem Ende der napoleonischen Kriege die Schauplätze von Schlachten auf und nimmt Bezug auf Größe und Sturz Napoleons.

Wissenschaftliche Erkenntnisse interessieren ihn brennend; er studiert Goethes Farbenlehre und malt ein Bild, dem er diesen 'Titel gibt. Der tiefe Pessimist Turner greift aber auch Schandflecke der Zivilisation auf, indem er ein Sklavenschiff malt, von dem 120 Sklaven geworfen wurden, weil das Trinkwasser knapp wurde.

Und doch ist er alles andere denn ein Historienmaler. Er braucht die Anschauung: Immer wieder fährt er nach Venedig, doch in seinen Bildern der Stadt verschwimmt der Markusplatz hinter Fluten von gleißendem Licht. Bei ihm entschwindet das Sujet wie bei keinem anderen Künstler des 19. Jahrhundert. Die Motive „verflüssigen” sich. So wenig ersieh in seinem Leben zum Knecht reicher Leute machen ließ - Adelige richteten ihm auf ihren Landsitzen ein eigenes Atelier ein und behandelten ihn alles andere denn als ihren Diener - so wenig ordnete er seinen Malstil dem Abbilden der Bealität unter.

Wenn er - in Anspielung auf Napoleons Rußlandfeldzug einem Bild den 'Titel „Hanniba] überquert die Alpen” gibt - ist der Feldherr kaum zu erkennen, dafür beherrschen Sturm, Schnee, Wind das Bild. Er experimentiert mit Bildpaaren, in denen es nicht um Erzählungen geht, sondern um Kontraste: hell - dunkel; kalt -warm; Ruhe - Chaos. Und er wagt sich an eine Farbe, die seit 1650 aus der Malerei verschwunden war, nachdem die Holländer, allen voran Frans Hals, Meisterliches mit ihr erzielt hatten: schwarz. Turner ist wie kein anderer ein Maler des Wetters und damit der Veränderlichkeit.

Wenn er Gebäude malt, interessiert ihn die Ruine, die sich die Natur zurückerobert. Während die europäische Kunsttheorie noch das Historienbild an die Spitze der Hierarchie der Gattungen stellt, nobilitiert er die Landschaft, doch nicht ihr Abbild, sondern ihre Überhöhung. Im Vergleich zu seinem deutschen Zeitgenossen C. D. Friedrich zeigt sich der Unterschied zwischen englischer und deutscher Romantik: Friedrichs Gemälde wirken bei allem symbolischen Gehalt nicht erhaben, Turner hingegen heroisiert die Landschaft.

290 Ölbilder und 19.000 Aquarelle und Zeichnungen: ein gewaltiges Lebenswerk. Es hat 'Turner ein Vermögen eingebracht. Seine Fähigkeiten als harter Geschäftsmann in seiner frühen Schaffenszeit ermöglichten ihm die Kompromißlosigkeit im Alter. Er hatte den Ruf, sagenhaft geizig zu sein. In seinem Testament aber hinterließ er den größten Teil seiner 150.000 Pfund Sterling armen Künstlern.

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