Stetig sich steigernd

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Zu Julian Schutting.

Julian Schutting * 1937

Schriftsteller

Defekt in der Weihnachtsmaschinerie, eine Etüde aus Julian Schuttings Gesamtwerk, anwachsend, stets neu in der Idee, gewichtig in der Form, stetig sich steigernd im Rang. Schuttings syntaktisches Spiel, erprobt an der Unabschließbarkeit des nie zu Ende gesagten, dekodierbaren Satzes. Flugblätter (1990), das erste Gedicht A. in Teil IV, nach den Höhepunkten Sonntag und Kinder spielen auf einer Wiese aus Teil III, was sich da öffnet und wiederöffnet auf einer (Kamera)Fahrt sich formender und zerfließender kaleidoskopischer Bilder der sich verzweigenden Haupt- und Nebensätze im Inventar der Möglichkeiten für die als unmöglich deklarierte mögliche Überschreitung des (womöglich falsch zitierten) Adorno-Verdikts, nach Auschwitz sei Lyrik nicht möglich. Wege, wie in Stein gehauene wiederholte Zusammenbrüche eines Todgeweihten (Mann oder Kind), an der Wegbiegung, vor der Steintreppe, dem der Kriegsknecht (oder SS-Mann) Hilfe stellt weiterzukommen zum Tode; Kreuze, die Technik des Registers gesteigert, wenn aus Gegenständen, nämlich Türen, mittels Syntax (den Vergleichspartikeln als, wie, und der Präposition für) elliptische Imperativsätze werden, die unsere Türen zu Kreuzen zu zimmern befehlen, für begangene Untaten, in Ortsnamen verborgen: Chelmno, Treblinka. Maidanek: ... "Stall- und Waggon- und Sägewerkstüren/ als Wegkreuz für das Tor von Belzec/ jede Weinkeller- Boden- und Waschküchentür/ für das Tor von Chelmno ...".

Singen will ich, Musen ... die Gabe des Menschen, sein Merkmal, Sprache in früher Kindheit geübt, im Innern bewahrte, vergessene Regeln, über Generationen vererbt, Materie und Material, werdend gewordenes Denken. Singen will ich die Kunst des Dichters, Mund und Wort seiner Zeit, über die Zeiten zu sein. Vom Glücksgefühl beim Lesen, Dem Erinnern entrissen (2001), ein Jenseitsflug oder -tauchgang zum Mythos der Mythen, Introitus scherzhaft (Die Mythe lebt), Verwünschungsparadigma (Am Ursprung der Mythen), tief Atemholen wie des Geheimrats ("Ach du warst...") Und dann der Abstieg, Beweis für Hermann Broch (der Dichter wende zum Mythos sich oder ist nicht), beginnt also Schutting "Ach, ich geb sie nicht verloren..." was nicht mehr zu sagen ist, dass Dichtung Liebe, zur Grammatik, zum Menschen, Liebe (auch), unser aller Werkzeug, Hymnos an den Sänger (Orpheus), Gesang, unerhört in heutiger Nüchternheit, Unberührbares nennend ohne Berührung, in Vorwegnahme des unvergleichbaren Gedichts Zueignung (Hymnus auf Ovids Metamorphosen "Von Gestalten zu künden, welche verwandelt/ In neue Körper fanden, treibt mich der Geist"; unvorbereitet, unvorstellbar, ungerührt verwandelt Schutting uns das Geheimnis des Jenseitswanderers Orpheus - translatio imperii HomerVergil-Dante-Rilke in einen Traum- oder Mondspaziergang am Grunde der See, um im Nachsatz die Tiefseetaucherin Riefenstahl zu verwandeln, jene unerlöste Unberührbare aus unseren Lebtagen und Bildschirmabenden, Eurydike neu, deren schönes Gesicht von einst unter der Tauchermaske und der Maske des Alters unser aller und ihr eigener Mythos geworden.

Defekt in der Weihnachtsmaschinerie

Stille Nacht erleuchtet alle Fenster, heilige Nacht rieselt leise

die Christrose ist eine oh-du-fröhliche,

die Christnelke eine oh-selige

König Herodes läßt suchen das entsprungene Ros

wer läutet an meiner Weihnachtsglocke,

wer klingelt mit meinem Weihnachtstelephon -

ein Weihnachtsmann, eine Weihnachtsfrau, ein Weihnachtskind?

Weihnachtsfest, weihnachtsflüssig

Krippenschau, krippenhorch

Krippenspiel, Krippenernst

weihnachtsgaben / weihnachtsnahmen, weihnachtsgaben gegeben haben

Christmann, Christfrau, Christkind

Dieser Weihnachtsmann ist ein Weihnachtsherr

der Weihnachts- oder Festbock

neidet dem Stern von Bethlehem seinen leuchtenden Schweif

Stern von Rio, Stern von Afrika

der Weihnachtsengel die Kerzenflamme der Schnee ist leise

die Kerzenflamme und /oder der Weihnachtsengel singt/rieselt leise

ein Kind (Sohn/Tochter) ist uns geboren

es schneit nicht nur zur Sommerszeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit

es herbstelt etwas, es winterlt ziemlich, es weihnachtet sehr

die Augen der kleinen Kerzen strahlen

die Flocken werden mit Bratäpfeln gefüllt

mit leuchtenden Kinderaugen wird der Weihnachtsbaum geputzt

Weihnachtswald und Feldweihnacht,

die Weihnachtskugeln pfeifen ein Weihnachtslied durch die Luft

die Christl von der Weihnachtspost / vom Postamt Christkindl

Maria schenkt Joseph ein kleines Christkindl als Christkindl

das Christkind wünscht sich zu Weihnachten ein hölzernes Kreuz

schon wieder ein Ros entsprungen!

vom Himmel hoch schöner die Locken/Flocken nicht ringen/schwingen

der erste Christ ist geboren, welche Bescherung!

der Weihnachtskarpfen glitzert selig, still und starr wie der See

das Weihnachtspapier wird in Weihnachtspapier verpackt

Ochs und Esel freun sich auf den Osterschinken

die Weihnachtsgans liegt in der Krippe

die Hirten erzählen dem Jesukind eine Weihnachtsgeschichte

der Weihnachtsengel wird am nächsten

nicht nur zur Sommerszeit grünenden Baum aufgehängt

Maria atmet, mehr als vorm Engel Gabriel erschrocken,

Weihrauch ein

der Weihnachtsspeck (große Weihnachtsbeilage!) muß weg

das Weihnachtslied hat eine Weihnachtsgrippe

ich rieche rieche Weihrauchfleisch

die Heilige Nacht ist eine heilige

stille und /oder heilige Nacht

der selige fröhliche tiefverschneite Weihnachtsfriede

fällt vom hochheiligen

tauet-den-Gerechten-und Wolken-regnet-ihn-herab-Himmel

der Turm bläst die Lichter aus

Von Julian Schutting

die furche, 22. 12. 1978

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