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Steuerlos im magnetischen Sturm

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Pfeil ins Blaue. Bericht eines Lebens, 1905 bis 1931. Von Arthur Koestler. Verlag Kurt Desch, Wien-München-Basel. 419 Seiten

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Pfeil ins Blaue. Bericht eines Lebens, 1905 bis 1931. Von Arthur Koestler. Verlag Kurt Desch, Wien-München-Basel. 419 Seiten

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Dieses Selbstbildnis wird von Politikern und Ideologen geröntgent und vpn den Kollegen des Autors kritisch unter die Lupe genommen werden. Aber seinen größten Wert hat es als menschliches p o (tum en t, ąls Bekei,ntnis- b u c h, das der Verfasset mit absoluter Aufrichtigkeit und Schonungslosigkeit gegen sich selbst zu Schreiben gelobte, als er während des spanischen Bürgerkrieges zum Tode verurteilt worden war. Gewiß sind der Lebensweg und die politisch? Entwicklung Koestlers auch typisch für die „heimatlose Linke". Vor allem aber gilt unser Interesse und unsere Teilnahme einem höchst individuellen Lehensschicksal, wie kein Rpmanautor es abenteuerlicher und bewegter ersinnen könnte.

Schon die kurze Ahnengalerie, die nur bis zum Großvater reicht, der den Namen Kestler (oder Kesztler oder Köstler) atinahm — aus keinem anderen Grund als dem Wohlgefallen gerade an diesem Nąmen —, ist abenteuerlich genug; und mit der dritten Generation, mit Arthur K., wird die Koestler-Saga zu Ende sein, da die Familie keine männlichen Nachkommen hat. Andere Lebensmotive: eine leidvoll-verschattete Kindheit ’(„Alle meine frühesten Erinnerungen gruppieren sich um die drei Hauptthemen: Schuld, Angst und Einsamkeit") und die frühe Erfahrung, daß man schuldig werden kannte, ohne es zu merken — wodurch ein chronisches Schuldbewußtsein entsteht und jede Strafe als gerecht empfunden wird. Sehr charakteristisch ist das Schwanken zwischen Perioden vollkommener Einsamkeit und Ausbrüchen eines fieberhaften Geselligkeitsdranges sowie die Neigung, bei diesen Anlässen „aus dem Häuschen zu geraten". Ein weiteres Motiv: die Helden seiner Jugend heißen Darwin und Spencer, Kepler, Newton und Mach, Edison, Hertz und Marconi. Haeckels „Welträtsel" sind die Bibel des 16jährigen, und die Welträtsel sind gelöst. Aber da bleibt das Paradoxon der Ewigkeit und der Unendlichkeit, und in einem „mystischen" Jugenderlebnis wird der „Pfeil ins Blaue" zum Symbol für die Sehnsucht nach dem Absoluten. (Wie wichtig dem Autor seine Jugendgeschichte ist, geht u. a. auch daraus hervor, daß er dem Buch ein — übrigens reizendes — Kinderbild vorangestellt hat.)

Von den Naturwissenschaften und der Mathematik herkommend, gerät der junge Student in Wien in den Kreis zionistischer Akademiker und findet in einer schlagenden jüdischen Verbindung zum erstenmal eine Gemeinschaft. Diese Zeit, vom 17. bis zum 20. Lebensjahr, bezeichnet Koestler als die glücklichste seines Lebens. Dann will er die Theorie in die Tat umsetzen und geht als Siedler nach Palästina, scheitert an der orthodoxen agrarkommunistischen Siedlergemeinschaft Kvutsa Heftsiba im Jesreeltal, lebt als hungernder Landstreicher und Limonadeverkäufer in Haifa, gibt in Kairo eine zionistische Wochenzeitung heraus, geht als Korrespondent des Hauses Ullstein in den Vorderen Orient und kommt schließlich über Paris nach Berlin, wo er als politischer, später als wissenschaftlicher Redakteur der „Vossischen Zeitung" mit 25 Jahren und einem Ministergehalt auf dem Höhepunkt seiner journalistischen Karriere anlangt. In dieser Zeit des größten äußeren Erfolges macht Koestler seine wichtigsten politischen Erfahrungen, erlebt den Zusammenbruch der Weimarer Republik und beschließt — als Protest gegen den Verrat der demokratischen Ideale — am 31. Dezember 1931, der deutschen KP beizutreten. Hier endet das Buch und der erste Teil des Lebensberichtes.

Vom Natur- und Fortschrittsglauben über den Zionismus zum liberalen Demokraten, und von hier der Absprung zur Kommunistischen Partei. Wie kam es ?tj diesem letzten Salto? In Paris ist Koestler nicht nur Ullsteįn-Karrespondept, sondern arbeitet auch für die Sozialdemokratische

Partei Deutschlands als Beyicbterstatter- Hier erkennt er die Schwäche der sozialdemokratischen Presse, die weder in England und Frankreich noch in Deutschland oder anderswo fähig war, eine wirklich erstklassige Tageszeitung mit Massenauflage zu schaffen. „Der Grund war anscheinend, daß es den Sozialdemokraten an Phantasie und wohl mehr noch an einer menschlichen Einstellung zum Volk fehlte. Diese Parteibonzen betrachteten ,das Volk' in erster Linie als Zielscheibe ihrer Propaganda, deren Interessen, Geschmack und Schwächen verstanden und geteilt werden müssen, wenn man das Antlitz der Welt verändern will. Die sozialistischen Parteiführer entstammen zwar oft dem Volk, gehörten aber nicht mehr zu ihm, sie wollten die Massen beherrschen und lenken, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Ihre Reden batten den trockenen, pedantischen Broschürenton eines Vortragenden in Volksbildungskursen; es war nicht die Sprache einer neuen Menschheit." Die fortschrittliche „Linke" wird durch den Liberalismus der bürgerlich-demokratischen Parteien (Ullstein), die Sozialisten und die Kommunisten vertreten- Aber die Ideale der „bürgerlichen" Parteien sind ausgelaugt, ihre Parolen nicht mehr wahr. In dem durch das Erstarken der Diktaturen entfesselten „magnetischen Sturm" haben alle Begriffe ihren Sinn geändert, und die Kompaßnadel zeigt nicht mehr die rechte Richtung: „Wir sprachen das Wort Demokratie feierlich wie in einem Gebet, und bald darauf wählte die größte Nation Europas mit durchaus demokratischen Mitteln ihre Henker an die Macht. Wir beteten den Willen der Massen an, und dieser Wille erwies sich als Selbstvernichtung und Tod. Wir hielten den Kapitalismus für ein abgenutztes System, und waren bereit, ihn für eine nagelneue Form der Sklaverei einzutauschen. Wir predigten Toleranz, und das Uebel, das wir tolerierten, zerfraß unsere Kultur. Der soziale Fortschritt, für den wir eintraten, wurde zum Fortschritt in der Richtung der Zwangsarbeitslager; unser Liberalismus machte uns zu Komplicen von Tyrannen und Despoten, unsere Friedensliebe ermutigte den Angreifer und führte zum Krieg.“

Das bezieht sich auf die Jahre 1928 und 1929, und mit dem Blick auf die Gegenwart fügt Koestler hinzu, daß, wie unter dem Bann eines fatalen Wiederholungszwanges, die Irrtümer der Vergangenheit heute, da der magnetische Sturm' noch andauert, wiederholt und die gleichen fehlerhaften Schlüsse gezogen würden. Damals aber war Koestler noch nicht so weit. Er hatte, nach seinen eigenen Worten, zwar zahlreiche Erfahrungen gesammelt, aber er war nicht weiser geworden. So glaubt er, daß nur noch die militanten Kommunisten die Welt retten könnten. Der Marxismus, dem er sich jetzt verschreibt, übt auf ihn die Faszination des „geschlossenen Systems", einer universalen Methode des Denkens, mit der man alles erklären kann und die für alle menschlichen Nöte ein Heilmittel anbietet. Weiterhin ist es ein System, das durch keine neuen Erfahrungen mehr der Bereicherung bedarf und das mit Hilf einer hochentwickelten Kasuistik alle Tatsachen umdeuten und dem System einzufügen vermag. Und schließlich handelt es sich um ein System, „das einen, wenn man einmal in seinen magischen Bann getreten ist, der kritischen Fähigkeiten beraubt, indem es ihnen den logischen Boden entzieht".

Zu dem Entschluß, sich der KP zuzuwenden, kam Koestler weniger durch einen positiven Antrieb als auf dem negativen Weg des Wegfalls anderer Möglichkeiten: „Nach der Septemberwahl des Jahres 1930 hatte ich miterlebt, wie der liberale Mittelstand seine Ueberzeugungen verriet und alle seine Grundsätze über Bord warf. Aktiver Widerstand gegen die braune Flut schien somit nur möglich, indem man sich entweder den Sozialdemokraten oder den Kommunisten anschloß. Ein

Vergleich der Vergangenheit dieser beiden, ihrer Energie und Entschlossenheit, schloß die ersteren aus und begünstigte die letzteren." — Hierüber und über den „Weg zurück” hat Koestler, zusammen mit anderen europäischen Intellektuellen, in dem Sammelwerk „Der Gott, der keiner war" berichtet, und dies wird wohl auch das Hauptthema des folgenden zweiten Bandes der Lebenserinnerungen sein, die der Leser mit Spannung erwartet.

Denn Koestler ist ein glänzender, zuweilen auch ein „blendender" Schreiber. Er besitzt nicht nur die Gabe genauer Selbstbeobachtung, sondern weiß, psychologisch und dialektisch geschult, auch immer genau, was der Leser denkt. Der Referent gibt gerne zu, daß Koestler ihm einige Gegenargumente geschickt und flink aus der Hand genommen hat. Entschiedene Einwände müssen trotzdem bei einigen Punkten gemacht werden. Indem Koestler die Dimensionen verkennt und Wertmaßstäbe vertauscht, zieht er wiederholt Parallelen zwischen dem „geschlossenen System" des Marxismus und der Kirche. Ebenso erstaunlich ist, daß er, vor die Alternative „Liberalismus — Sozialdemokratie" oder „KP" gestellt, keine dritte Kraft, auch nicht auf der geistig-weltanschaulichen Ebene, wahrzunehmen vermag. Und noch eines: Koestler wollte ein unbedingt aufrichtiges Buch schreiben. Da meinte er nun, auch über Dinge berichten zu müssen, die man (als der privatesten Sphäre angehörig) auch in Autobiographien auszusparen pflegt. So stimmt er etwa einen Kantus auf die Maisons de tolerance an, denen es angeblich zu danken ist, daß Frankreich als das neurosenfreieste Land Europas gelten kann — eine höchst fragwürdige These und ein peinliches Kapitel in diesem ernsten Lebensbericht.

Trotz solcher Einwände aber will uns scheinen, daß sich dieser Mann Arthur Koestler doch nicht so ganz steuerlos im magnetischen Sturm bewegt hat. Davpr bewahrte ihn ein überwaches und empfindliches intellektuelles Gewissen, ein Gefühl für

Recht, Sauberkeit und den geraden Weg. Von der Erkenntnis zur Aktion ist bei ihm immer nur ein knapper Schritt. Er weiß stets, was er tut und gibt sich Rechenschaft über seine Fehler. — Auch hat er bewiesen, daß er imstande ist, sich selbst gewissermaßen am Schopf zu ergreifen und aus bösen Dingen herauszuziehen. Dieser überaus fleißige Autor ist ein heller und klarer Kopf, dessen Gesellschaft — auch wenn man manche seiner Meinungen nicht teilt —r- interessanter und erfreulicher ist als die vieler „tiefsinniger" Mystagogen, Eiferer und Ideologen.

Prof. Dr. H. A. Fiechtner

Brüderlichkeit- Von Theodor Heuss. Itn Furche-Verlag Hamburg. 47 Seiten. Preis 1.80 DM.

„Es kommt jetzt mehr als je darauf an, daß dęr christliche Glaube durch die christliche Tat bestätigt wird." So schließt das Nachwort des Verlags dieser sieben, in Auswahl gesammelten Reden des deutschen Bundespräsidenten. Mit Freude verspüren wir aus ihnen den Hauch eines wahrhaft evangelischen Geistes. Friede zwischen den christlichen Bekenntnissen, zwischen den Völkern, zwischen den Klassen; Mahnung, gerade auf so schwierigem Gebiet wie dem der christlich-jüdischen Zusammenarbeit oder dem des Gedenkens an die noch fernen Kriegsgefangenen: Theodor Heuss weiß diesen Themen mit Liebe und mit Weisheit gerecht zu werden. Weil es ihm wahrhaft um Gerechtigkeit geht, um das Walten jener, aus einer nicht nur diesheitigen Humanität schöpfenden Rechtssicherheit, die den Frieden zur Voraussetzung und zum Ziel hat. Wohl dem deutschen Volk, wenn es den künstlerisch in einer dem Inhalt adäquaten vollendeten Form dargebotenen Worten folgt, die ihm das Herrliche, das Nützliche, das Gewaltige menschlicher Brüderlichkeit aus der gemeinsamen Gottkindschaft dartun.

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