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Stimme eines Jungen

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BEGEGNUNG UND AUFTRAG. Beiträge zur Orientierung im zeitgenössischen Sozialismus. Von Norbert Leser. Europa-Verlag, Wien, 1963. 257 Seiten. Preis 84 S.

Der Rezensent, der vom Autor in dem vorliegenden, sehr beachtenswerten Buch als Vertreter „einer österreichischen Staats- und Geschichtsmystik“ angesprochen wird, möchte gern bescheinigen, daß dieser Ansatz einer sozialistischen Selbstkritik erfreulich unmystisch ist. Norbert Leser, Vertreter einer zornigen (klug-zornigen), wachen, jungen sozialistischen Generation, sieht in Marx den Propheten und Visionär, ersieht ein anarchistisch politisches Ideal bei Marx und Engels, weiß mit Paul Tillich über „gebrochenen Mythos“ und „ungebrochenen Mythos“ Bescheid und läßt sich selbst nur einmal in' größerem Umfang auf eine Mythisierung ein: in seiner Darstellung des Ferdinand Lassalle, des überaus fragwürdigen ersten Führers der deutschen Sozialdemokratie. „Der Triumph des Achilles-Ferdinand Lassalles Gegenwartsbedeutung“: auch Sozialisten brauchen anscheinend noch „Helden- und Heldenverehrung“, wie, Carlyle folgend, so viele andersdenkende Menschen...

Norbert Leser sieht in Lassalle nicht die zahlreichen Züge, die auf einen roten Hitler hinweisen, sieht nicht die Demagogie, die Unreife und Unklarheit des Denkens (die Marx und Lenin in ihrer Kritik von Lassalles Buch über Heraklit angeprangert haben), sondern eben einen guten Führer zu guter Zukunft eines freiheitlichen Sozialismus. Wir halten diese Irrmeinung für bedeutsam: Sie hängt nämlich mit der bedeutenden Bemühung Norbert Lesers zusammen, die „traumatischen Erfahrungen des Sozialismus“ wahrzunehmen und zunächst geistig aufzuarbeiten. Dies muß heute und morgen möglichst klar gesagt werden: nicht nur unsere Völker und Konfessionen besitzen, sondern auch unser mitteleuropäischer Sozia-Iismus besitzt unbewältigte Vergangenheiten, die ihm so viel Gegenwart und Zukunft verstellen. Ferdinand Lassalle ist ein genialer Wirrkopf, jedoch kein guter Führer in gute Zukunft.

Zurück zur Gegenwart. Norbert Leser wirft den „Konservativen“ (womit er so ziemlich alles jenseits seines Sozialismus zusammenfaßt) eine „Unfähigkeit zur Entwicklung von Zukunftsperspektiven schlechthin“ vor. Dieser Vorwurf ist sehr ernst zu nehme. Wir würden uns freuen, wenn wir in Österreich „Konservative“ und Sozialisten im edlen Wettstreit in der konstruktiven Programmierung von Zukunftsperspektiven in absehbarer Zeit sehen dürften. Vorläufig sieht es nicht darnach aus ... Nicht dies ist nämlich dem ehrlich um sozialistische Selbstkritik bemühten Autor vorzuhalten: daß er seine politischen und weltanschaulichen Gegner kritisiert, manchmal in Grund und Boden kritisiert, sondern daß er in Richtung Sozialismus, in Richtung Zukunft, so wenig vorzustellen vermag. Um auf zwei ziemlich gleichzeitige Neuerscheinungen aufmerksam zu machen: in Pierre Bcrtaux' „Büchlein über die Mutation des Menschen“ (eben in der Fischer-Bücherei erschienen) und in Richard Behrendts Buch, „Dynamische Gesellschaft“ — zwei Bücher von Autoren, die dem Verfasser in manchen politischen Ansichten nicht fernstehen dürften —, ist auf jeder Seite jener Zug der „Perspektive“ spürbar, der bei uns in Österreich fehlt. Nicht nur im Sozialismus, gewiß nicht. Aber gerade hier auch. Von der „zunehmenden provinziellen Enge in Österreich“, die in seinem Vorwort zu Lesers Buch Christian Broda so herzhaft richtig beklagt, sind leider unsere Sozialisten nicht ausgenommen. Sollte das damit zusammenhängen, daß sie ihre eigene junge Generation parteimäßig zu einer Selbstfesselung veranlassen oder gar einer Parteidisziplin im Denken unterwerfen, bei der kein großzügiges Vordenken gedeihen kann? Sollte das Unbehagen, die Enttäuschung und die Leere, die Norbert Leser im zeitgenössischen Sozialismus ersieht und beklagt, mit diesem Prozeß zusammenhängen?

Es ist nämlich mehr als zahm, was da unser hochbegabter junger Autor in Richtung Zukunft zu denken wagt: Er plädiert für eine neukantianische Grundlegung des weltanschaulichen Sozialismus (wie ein guter alter Professor des Katheder-Sozialismus um 1880 oder um 1900). Er spricht freundlich über Ernst Bloch. Er setzt sich kritisch mit einem sozialistischen Ubersehen großer österreichischer Tradition auseinander. Nach Lesung vieler schöner und anregender Bemerkungen und Betrachtungen bleibt die bange Frage: Werden junge Sozialisten in Österreich wirklich den Sprung über den Schatten wagen, über die Schatten ihrer Vergangenheit? Nicht nur für sie selbst, für uns alle wird viel davon abhängen: ob sich in Österreich junge Sozialisten aus dem süßen und sauren Terror der Parteimaschine und aus der großen Enge eines nur scheinbar offenen Systemdenkens befreien werden. In naher Zukunft. „Zukunft“, so heißt ja eine Zeitschrift des Sozialismus in Österreich...

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