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Stirbt das Volksschauspiel aus?

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Zur Klage, daß Märchen und Sagen, Lieder und Gesänge aus dem Volksmunde verstummen, wie sein altes Hausgerät, seine Sippenandenken, seine familiären Seligkeiten im gemeinsamen Hofleben verschwinden, hat sich im Sommer 1953 die weitere hinzugesellt: Das Volksschauspiel stirbt aus! Bei diesen Betrachtungen vermengten sich zunächst freilich gar verschiedene Vorstellungen. Vom Volksstück, wie es Raimund und Nestroy, Anzengruber, Kranewitter und Schönherr, freilich in zunehmend sarkastischer Selbstbespiegelung, gerade im Oesterreich des 19. Jahrhunderts hochgebracht hatten, das aber zunächst für Berufstheater und Stadtbühnen geschaffen worden war. Oder von berufsmäßig erstarkten Volksbühnen, die sich aus Liebhabertheatern entfaltet hatten, wie z. B. Ferdinand Exls Tiroler Bühne in der Direktion seiner Tochter Ilse noch Geltung hat. Oder von den ständigen Vorstadttheatern, die sich auf den „Volksgeschmack“ einstellen. Als Hauptberuf und Geschäftsbetrieb stehen sie schon weitab vom gelegentlichen, bekenntnisfrohen, kulissenfreien Laienspiel, oder gar vom alten, fast nur mehr dörflichen Umzugs- und Stubenspiel der Advents- und Weihnachtszeit, oder von dem ihm nahe verwandten Großspiel ganzer Gemeinden, wie den Passionsspielen von E r 1 oder T h i e r s e e bei Kufstein. Letztere hatten noch vor drei Jahrzehnten in Ehren bestanden, wenngleich sie schon Heimatverwurzelung und Fremdendienst verbanden. Wie sehr die Begriffe von diesen wesensungleichen Arten und die Einblicke in die tatsächlichen Schwierigkeiten solcher Großspiele selbst in Fachkreisen abirren können, d. h. den inneren Lebensbedingungen fernstehen, nämlich den Nachkriegsohnmachten, den persönlichen und amtlichen Schwierigkeiten und den ungenügenden Weisungen von Volkskulturstellen, geht z. B. aus einer mehr schreibtischmäßigen und museal-einseitigen als volkskundlichen Schlußbemerkung über die alten Tiroler Spielorte hervor, die innerhalb eines „Berichtes“ über „Neuere Passionsspielforschung in Oesterreich“ im 2. Band des Jahrbuchs des österreichischen Volksliederwerkes (Wien 1953) unterlaufen ist.

Durch das tragische Zwischenspiel, das unsere ganze österreichische Volkskultur rund um den zweiten Weltkrieg mehr oder minder schwer traf und daran sich die Mechanisierung und Technisierung der Volkswirtschaft und die stärkere Bedachtnahme auf die Fremdenverkehrsinteressen als stärkster Einbruch anschloß, ist es bisher noch keinem der bewährten Großspielorte gelungen, sich aus eigenem wieder aufzuraffen und auf die Dauer in der neuen Aera zu bestehen. Zunächst trat vor Augen, daß die Mittel einer Restauration Summen ausmachen, die über die bisherigen Verhältnisse weit hinausgreifen, aber auch die Ansprüche, welche an ein solches Volksschauspiel gestellt werden, seitdem Kino und Radio, Lichtreklame und Auslagekünste sich dörflich eingenistet haben, welche die örtlichen Einrichtungen und Aussichten auf absehbare Deckung übersteigen. Spieltexte, die den jetzigen Lebensanschauungen Volks- und spielgerecht werden, liegen nicht gerade vor Augen. Sie lassen sich auch nicht über Nacht aus dem Boden stampfen. Entscheidend bleibt, daß sich in diesen und in anderen Orten noch nicht jene Atmosphäre ausbilden und ausbreiten konnte, welche die Voraussetzung für ein solches anspruchsvolles Dorfwerk wäre. Es fordert einen ganz außerordentlich hohen persönlichen Einsatz vieler für Spiel, Gesang, Musik und Regie, ein gemeinsames Einleben, langen Verzicht auf Freizeit und Vergnügungen, kurz eine Lebenshaltung, die heute vielfach auf dem Lande noch mehr als in gewissen Stadtkreisen ungewöhnlich geworden ist. Nach den Rückschlägen der letzten Epoche wagt sozusagen keiner in einem solchen Orte mehr, sich voranzustellen und die übrigen, vorab die Jugendlichen, mitzureißen, weil er zu oft hören muß, welchen und wievielen Gefahren dieses Unterfangen heute ausgesetzt wäre und wie schweren Sorgen, Unannehmlichkeiten, ja Katastrophen den letzten Vorgängern lange mitspielten, wie schwer es außerdem ist, uneigennützige Berater und fachkundige Mitarbeiter von auswärts zu gewinnen und sich zu erhalten, auf die ein solches großes Dorfspiel mitangewiesen ist. Schon vor dem zweiten und ersten Weltkrieg kam es wesentlich darauf an, daß eine solche und welche das ganze Dorf zusammenhaltende Persönlichkeit sich entfaltete und daß sie ihre Fachleute rechtzeitig einsetzen konnte. Das war z. B. in der Passionsspielgemeinde Brixlegg seit seiner Begründung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts immer wieder der Fall gewesen.

Aus solchen Einsichten heraus wuchsen schließlich verschiedene Laienspieltagungen in unseren Alpenländern, aber auch in sonstigen Bundesländern, empor. Es ist bezeichnend, daß Gebiete und Volksschichten, die mit dem alten, heimeligen, dörflichen Brauchspiel der Umzüge und Stuben fast nichts mehr gemein hatten, sich mit besonderem Eifer, meist von Kunsteifrigen angeführt, solchen Laienspiels annehmen und eine, neue Spielkultur in ein verarmtes Volk tragen, so z. B. in Vorarlberg. Wenn sie große Volks- und Laienspiele vorbildlicher Art als Dauerwerke noch nicht festigten, beeinträchtigten die noch ungenügende Atmosphäre oder der Mangel an durchschlagenden volks- und zeitgemäßen Entwürfen ihr Tun. Das hatte sich selbst bei den an und für sich recht erfreulichen Vorstellungen des Erlösungsspiels von Rudolf Henz in F u 1 p m e s (Stubai) vor 2J4 Jahren gezeigt. Man spürte die geistigen und spielerischen Ansätze zu einem neuen Mysterienspiel. Aber es fehlten der entwicklungsfähige Raum, die geschlossene Spielzeit und der harmonische Resonanzboden für ein neues Tiroler Passionsspiel unserer Zeit.

Unwillkürlich wenden die Augen der begeisterungsstarken Jugend solcher Spielorte sich wieder alten, bewährten Traditionen zu. So hatte sich z. B. zu P r a g s in Südtirol eine Spielgesellschaft neu gebildet, die ihr altes örtliches Nikolausspiel mit 42 Mitwirkenden und reichhaltiger Ausstattung an den Tagen des Nikolausfestes von 1953 in den Pustertaler Bauernhäusern von Prags und Alt-Prags vorführte und damit die faschistische Unterbrechung überwand. Als größeres Beispiel will ich nur noch die Gemeinde A x a m s auf dem südwestlichen Mittelgebirgsboden von Innsbruck herausheben. Seine großen Dorfspiele knüpfen an das Auftreten der P.estseuchen von 1611 und 1634 an, um derentwillen die Axamer Mittelgebirgler eine Pestkapelle im heutigen Dorfe Birgitz erbauten und ein mächtiges Einkehrspiel von den vier letzten Dingen der Menschen davor als ihr Welttheater für ihre alte Urpfarre und ihr ganzes Gericht veranstalteten. Wie diese Mittelgebirgler ihre großen Krippen vor mächtiger Landschaft aufzubauen begannen, so entfalteten sie ihr Spiel im Freien, veranlaßt durch die Aufzüge, Wege und Standorte ihrer großen Figuralprozessionen. Von 1651 bis 1750 lassen sich diese Verlöbnisspiele am Pfingstmontag in Axams archivalisch belegen, bis der aufgeklärte Absolutismus gewaltsam eingriff und sie endgültig erdrückte. Sie hatten Anklang in anderen Dörfern des Inntals und Nachahmung in Nachbarländern wie in Altenmarkt bei Radstadt gefunden.

Seine Spätaufführungen schilderte Prof. Dr. J. Gregor als das großartigste österreichische Welttheater des 18. Jahrhunderts.

Neben diesem Weltuntergangsspiel schufen zwei Axamer Dorf burschen in den Jahren 1677 78 ein nicht minder auftrittsreiches Schauspiel vom Patriarchen Jakob mit seinen zwölf Söhnen. Es gelangte aber erst knapp vor der einsetzenden Belagerung Wiens durch die Türken, im Juni 1683, als Votivwerk zur Aufführung, während alle Vergnügungen, Maskeraden und Saitenspiele der Türkengefahr wegen im Lande verboten waren. Dieses Verlöbniswerk hielt sich seither in verschiedenen Abwandlungen bis in die Gegenwart. Die beiden Handschriften von 1677 78 bilden die Grundlage einer Ausgabe, die jetzt dank dem Entgegenkommen der Deutschen Forschungsgemeinschaft neben dem zehnbändigen Handbuch der Theaterwissenschaft C. Niessens im Theaterverlag Lechte zu Emsdetten (Westfalen) in Druck gelegt wird. So naiv-volksmäßig das bunte Schicksal Josefs von Aegypten vorgeführt erscheint, strotzt das Spiel von gewaltigen Antithesen des Barock von Gotteshand und Menschenwerk, von Hirtenseligkeit, Hof- und Militärpracht und Aufstiegsmöglichkeit aus dem Bauernstände, aber auch von Christentum und Tatarentum, so daß damals, als die abendländische Christenheit um Wien und Westeuropa zitterte, dieses Verlöbnisspiel wie ein aufrüttelnder Aufruf und wie ein Gebetsschrei um Hilfe gewirkt haben mag. Noch heute ist der Stoff reich an zeitgerechten Ausrichtungen. Die stadtnahe Gemeinde A x a m s, abseits von Bahn und Hauptstraße auf freiem Mittelgebirgsboden in der mächtigsten Alpenlandschaft hingelagert, geht vom geschlossenen Bauerndorf in eine aufgelockerte Arbeitermehrheit über, verkörpert demnach geradezu den alpinen Wandel und vermöchte daher auch in ihrem Spiele einiges zu jener Atmosphäre mitzugeben, die den vielen Problemen unseres durchsetzten Landlebens gerechter wird.

Die Axamer bereiten die Wiederaufnahme jenes Josefspiels für Frühjahr 1954 vor. Sie hatten es im herkömmlichen Stil biblischer Erzählung 1947 48 zum letzten Male mit guten Erfolgen dargeboten. Die Auszeichnung, daß ihr alter Spieltext sozusagen als Musterbeispiel eines größeren dörflichen Volksschauspiels des 17. Jahrhunderts durch seine Drucklegung herausgehoben wird, löste eine starke Begeisterung und Einmütigkeit in der Gemeinde aus. Sie ist entschlossen, ihrer großen Aufgabe zu entsprechen. Schon bei den Vorstellungen vor 5, 6 Jahren konnte man eine gewisse Sehnsucht unter den zahlreichen ländlichen Zuschauern aus Tirol und der Nachbarschaft nach früheren, rein ländlichen Zuständen und eine starke Teilnahme an den landwirtschaftlichen Sorgen und den Hofkämpfen des daraus emporgestiegenen Staatsmannes beobachten, die über die Neugier nach der oberschichtlichen Welt von ehedem beträchtlich hinausging. So könnte die Neufassung und Neugestaltung des alten Spielvorwurfes an gegenwärtige Verhältnisse und Geschehnisse anknüpfen und das alte Volksschauspiel über das rein Stoffliche als Volksausdruck der Gegenwart hinausführen.

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