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Straßburg im Zwielich

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Zunächst sieht das Problem ganz einfach aus — am Ende aber weiß man, daß es unendlich schwer ist, auch nur für sich selbst zu einem Urteil zu kommen. Jahrzehntelang war Straßburg das Sinnbild der Zwietracht zweier großer Nationen, Deutschland und Frankreich, ohne die es kein Europa gibt. Nun ist Straßburg als Sitz des Europarates zum Sinnbild des geeinten Europa geworden. Und so wie Franzosen und Deutsche in Straßburg zusammen leben, so werden auch die Völker Europas ihr gemeinsames Dasein gestalten.

So denkt man vielleicht, wenn man nach Straßbbrg kommt — und ist enttäuscht. Zu Unrecht. Denn solange Europa in den Kinderschuhen steckt, sollte man auch in der Hauptstadt des Europagedankens nicht gleich seine volle Verwirklichung erwarten.

Aber lassen wir zunächst den ersten Eindruck auf uns wirken: Die Straßentafeln rein französisch, die Firmenschilder rein französisch, die Namen der Besitzer fast ausnahmslos deutsch. Das sieht ja fürs erste aus wie in Südtirol zur Zeit Mussolinis! Mir ist als Symbol dafür die Aufschrift auf dem Hause eines biederen Tiroler Dorfschuhmachers in Erinnerung: „Pietro Ueberbacher, Calzolaio.“

Als Oesterreicher vergleicht man mit der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Aber in Znaim oder Neutitschein war jede Straßentafel zweisprachig, wenn sie auch bloß die bescheidene Abwandlung „Masa-rykowa = Masarykstraße“ zeigte. In Preßburg gab es sogar dreisprachige Tafeln, und die Geschäftsaufschriften ersetzten ein Wörterbuch.

In Straßburg sind auch auf den Straßentafeln nur Eigennamen als fossile Reste der deutschen Sprache zu finden. Dutzendweise sieht man Straßennamen, wie Place Gutenberg, Place Kleber, Rue Kuß, Rue Kühn, Quai Kellermann und Quai Jacques Sturm, Rue Molsheim und Place Haguenau. Wenn man sehr genau Umschau hält, entdeckt man noch einige Spuren deutscher Aufschriften. Auf einzelnen Häusern aus der Wilhelminischen Zeit steht: „Betteln und Hausieren verboten“, oder „Gas in allen Etagen“. Und an den Haustoren bemerkt man gelegentlich Schilder von Aerzten und Zahnärzten mit zweisprachiger Aufschrift. Vor allem aber: Ausgerechnet in der Straßenbahn finden sich zweisprachige Belehrungen. Wenn die französischen Behörden etwas dagegen hätten, wäre eine Straßenbahngeselischaft vermutlich die letzte Einrichtung, die es auf einen kalten Krieg ankommen ließe. Auch auf einem Gasthaus sah ich vereinzelt ein Steckschild, das auf einer Seite deutsch, auf der anderen fran-' zösisch beschriftet war. Aber wenn e i n Gasthaus das tun kann, wenn e i n Arzt sich ein doppelsprachiges Schildchen leistet, dann geht daraus ganz offenkundig hervor, daß es offenbar an der Bevölkerung selbst liegt, wenn nicht mehr deutsche Aufschriften zu sehen sind. Ist also Straßburg vielleicht trotz der deutschen Namen schon ganz französisch geworden? Keine Spur — man hört auf der Straße und in den Geschäften mindestens soviel Elsässer „Ditsch“ als Französisch und vernimmt, daß die Elsässer daheim überhaupt nur ihre Mundart sprechen. Und die Mundart kommt auch sonst öfter zum Vorschein. Kaum ein Gasthaus, wo nicht mit Kreide angeschrieben steht: „Naier Sießer!“ oder „Sießer un Rießer“.

Die „Furche“ hat vor einiger Zeit in einer Glosse das Gerücht verworfen, daß die Franzosen die deutsche Schriftsprache aus der elsässischen Literatur ausschalten wollten. Und das ist richtig. In fast jeder Straßburger Buchhandlung finden sich deutsche Bücher, in den Musikalienhandlungen Noten mit deutschem Text. Irgendwo habe ich sogar die „Tiroler Holzhackerbuam“ mit französischem Untertitel gesehen. Es gibt auch deutschsprachige Modehefte — aus Wien. Im Kino werden Filme in deutscher Sprache aufgeführt. Im Theatre Muncipal finden mehrmals im Monat elsässische Mundartaufführungen einer Liebhaberbühne statt. Von einem Vernichtungsfeldzug gegen die deutsche Sprache kann also nicht die Rede sein.

In den Schulen allerdings wird nur französisch unterrichtet. Dagegen hört man, daß das Unterrichtsministerium in Paris darauf besteht, wenigstens den 12- bis 14jährigen auch Deutschunterricht zu geben. Wie man aber die Gesamtheit der Erscheinungen qualifizieren soll, ist eine Gewissensfrage. Den Anforderungen eines Minderheitenrechtes, wie es in Oesterreich und den Nachfolgestaaten bestand, entspricht die Rolle der deutschen Sprache im Elsaß keineswegs. Aber darf man diese Dinge da und dort so ohne weiteres gleichsetzen? Unser Oesterreich hat man ja seinerzeit auch einen Völkerkerker genannt, und nun wird unserer großen Kaiserin Maria Theresia als vorbildlicher Landesmutter ihrer vielen Völker eine Europamedaille gewidmet ... Eines ist sicher: daß die Sache in Straßburg keinesfalls so liegt wie seinerzeit in Znaim oder Neutitschein. Dort gab es nämlich Deutsche und Tschechen — aber gibt es denn in Straßburg Franzosen und Deutsche? In Straßburg und im ganzen Elsaß gibt es der Hauptsache nach nur Elsässer — und das ist an sich das Problem.

Daß die Elsässer keine Deutschen sein wollen, kann man aus der Geschichte der Jahre 1871 bis 1918 entnehmen, aber auch aus der Vermeidung schriftdeutscher Aufschriften und anderem. Nun könnte man französischerseits ohne weiteres zu der Schlußfolgerung kommen: Wenn die Elsässer keine Deutschen sein wollen, dann wollen sie offenbar Franzosen sein? Auch das wäre falsch. Auch dem Franzosen weht von dem Elsässer so etwas wie ein Hauch von Unbehagen entgegen, für das er das schöne Wort „malaise“ hat. Aber vielleicht wird man behaupten, daß die Elsässer nie zufrieden waren, in Deutschland nicht und in Frankreich nicht. Dürfte man ihnen daraus einen

Vorwurf machen? Man wechselt ein Vaterland nicht wie ein Hemd. Daß die Elsässer nach 1871 die Bindungen an Frankreich nicht sofort über Bord warfen, spricht nur für sie. Aber nach einem Menschenalter hatten sie sich eingewöhnt. Dann kamen die Zwischenfälle wie der von Zabern. Ein preußischer Leutnant beschimpfte die Elsässer so, daß sie den Eindruck haben mußten, ,im Deutschen Reich für alle Zeiten nur Bürger zweiten Ranges zu sein. Und dafür bedankten sie sich. Freilich' hatte die deutsche Verwaltung auch mustergültige Einrichtungen geschaffen.- Und manches davon vermißte man dann nach der. Rückkehr zu Frankreich. Wie man sich aber im Großdeutschen Reich fühlte, wenn man zu den „Hilfsvölkern“ und „Beutegermanen“ gerechnet wurde, das können wir selbst beurteilen.

Nun hätte man glauben können, daß mit der Rückkehr zu Frankreich das Elsaß zur Ruhe gekommen wäre. Ausgerechnet der Schatten der SS aber brachte eine unerwartete Aufregung, als man ein Dutzend Elsässer wegen des Gemetzels von Oradour vor Gericht stellte. Kennzeichnend ist, daß sich unter den Opfern auch evakuierte Lothringer befanden. Wie immer man über Schuld oder Nichtschüld der einzelnen Beteiligten denken mag, das Elsaß nahm jedenfalls den Standpunkt ein: Wenn die Welt nicht verhindern konnte, daß unsere jungen Leute zur SS einrücken mußten, dann kann man diese auch nicht für Dinge bestrafen, die im Tollhaus des Krieges als Folge dieses Zwanges auftraten.

Frankreich war sehr erstaunt über die völlig unerwartete heftige Reaktion im Elsaß. Aber es hat rasch und geschickt darauf reagiert: der Zwischenfall von Zabern hat keine französische Parallele gefunden. Eines freilich bleibt bestehen: das Bewußtsein, daß ein Problem ungelöst ist, ein Problem, das man nicht fassen kann und von dem nur sicher ist, daß es mit dem Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich nichts zu tun hat. Es wird nur überschattet von ihm. Und überschattet von dem noch größeren Problem der europäischen Einigung.

Es könnte so aussehen, als ob die Einigung Europas das dringendste wäre, die Schaffung einer größeren Einheit um jeden Preis. Aber das Griechenland des klassischen Altertums war ein Haufen untereinander verfeindeter Stadtstaaten, als es die Unterjochung durch Persien vereitelte und eine der glänzendsten Kulturen unseres Erdballes schuf — geeint und im Schutze des römischen Machtfriedens aber sank es zur Bedeutungslosigkeit herab! Auch das Europa von heute sieht auf eine Geschichte zurück, in der es unter Streit und Fehden seiner vielen Völker und Staaten Großes schuf. Und nicht nur die Nationen wahren eifersüchtig ihr Eigenwesen, sondern innerhalb jeder Nation gibt es noch Zweige und Volksgruppen, die zwar gar keine sonderstaatlichen Gedanken haben, aber doch auf irgendeine Weise ihr eigenes Leben führen wollen. Dazu gehören die Elsässer. Vielleicht besteht ihr Unbehagen nur darin, daß man ihnen jedes Wort, das nicht in der Mundart gesprochen wird und mit dem sie entweder der deutschen oder der französischen Sprache den Vorzug zu geben scheinen,- als Bekenntnis auslegt.

Was sie in Wirklichkeit wollen, ist wahrscheinlich nur eines: In Ruhe leben zu können, wie es ihnen gefällt. Und wenn sie ihre deutsche Muttersprache selbst zurücksetzen, weil ihre Schriftform, die von der Mundart ja doch nicht zu trennen ist, ungute Erinnerungen an die Verbindung mit Deutschland weckt, dann kann dies nicht ohne seelische Wunden abgehen. Vielleicht sind sie dem einzelnen selber nicht bewußt, aber das Unbehagen, die „malaise“, ist vorhanden, und wenn dann plötzlich irgendeine Gereiztheit zum Ausbruch kommt, weiß sich niemand zu deuten, was mit diesem Elsaß eigentlich los ist.

Auch ich für meinen Teil möchte nicht behaupten, daß meine Diagnose Unbedingt richtig ist. Aber manchmal sieht der Fremde mehr als derjenige, der mit den Dingen von Grund auf vertraut ist. Und weil die Diagnose allein noch wenig nützt, wenn kein Heilmittel dazukommt, möchte ich noch daran erinnern, daß es auch noch andere Leute gibt, die ihre Verbundenheit mit der deutschen Sprache und Kultur pflegen wollen, ohne damit ein Bekenntnis zu einer politischen Einheit ablegen zu wollen. Und die im Gegenteil sogar ein Interesse daran haben, zu zeigen, daß sie diese Werte als ihr eigenes uraltes Erbe pflegen und nicht als Ableger einer bestimmten staatlichen Erscheinungsform. Uns Oesterreicher verbindet mit dem Elsaß das gemeinsame Interesse an der Wahrung unserer Eigenart, die jeder in seinem angestammten Heimatbezirk pflegen will. Und vielleicht wird eine engere Verbindung zwischen kleinen Gruppen und Völkern, nur von Herz zu Herzen und im Bereiche der Kultur, abseits aller weltpolitischen Erwägungen, mehr dazu beitragen, aus dem Zwielicht der Gegenwart herauszukommen, als manche große Aktion.

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