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Südtirol in italienischer Sicht

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„Audi Italien muß sich nun mit dem Problem der fremdsprachigen Elemente auseinandersetzen. Es hat keinen Sinn, daß wir uns dies verschweigen oder daß wir diese Tatsache bestreiten: Die Friedensverträge bzw. die Regelungsverträge (mit Jugoslawien; Anm. d. Uebers.) haben wohl die, nunmehr für immer vom Mutterland ge-' trennten, Italiener Dalmatiens geopfert, jedoch sie haben, uns die notwendige militärische Grenze gebend, Elemente in unsere Grenzen einbezogen, die die Angliederung an unseren Staat nicht gewünscht hätten. Wird das bei uns eine Wiederbelebung jener Probleme und Uebel mit sich bringen, die

Oesterreich geplagt hatten? Ich habe festes Vertrauen, daß es nicht so sein wird. Unsere alte Rasse hat im Laufe der Jahrhunderte eine, so beständige Assimilationskraft gezeigt, sie hat so wunderbare Verschmelzungen vollbracht, gänzliche und vollkommene, so daß das neue Problem keine Sorge bereiten kann. Der alte römische Stamm hat im Laufe der Jahrhunderte so viele und so verschiedene Rassen in sich aufgenommen (assorbito), dabei aber das eigene geistige Vermächtnis unversehrt erhalten, ja wenn auch die äußerlichen Merkmale des kleinen republikanischen Kerns, der Karthago besiegt hatte, nicht mehr bestehen, so leben jedoch die Charakterzüge seines Geistes, alle Formen des römischen Verstandes. Der alte Stamm hat im Mittelalter Ostgoten und Langobarden, Franken und Normannen aufgesaugt, ohne weder Sprache noch Recht, weder Namen noch Sitten zu ändern: niemand anderer als er ist besser berechtigt, mit Vertrauen in die Zukunft zu blicken. Aber selbst das Italien unserer Tage, das Italien der savoyardischen und garibaldischen Einigung, findet auch vertrauenswürdige Impulse: An den gegenüberliegenden Grenzen gibt es zwei Beispiele, die man gerne erwähnt: Das Aostatal, bewohnt von französischer und zum kleinsten Teil deutschsprachiger Bevölkerung, hat einer der ruhmreichsten Brigaden, Aosta la veja, den Namen gegeben und hat seine Söhne in ein immer und immer wieder gerühmtes Alpini-Bataillon gesendet, das unvergleichliche Taten vollbracht hatte. Kein Stück Erde ist mit mehr Inbrunst italienisch als das Aostatal. Am gegenüberliegenden Ende befindet sich die slawische Bevölkerung von San Pietro in Natisone, eine andere Sprachgruppe italianissima in ihrer Treue, eine zähe Verteidigerin unserer Rechte, die immer unsere Hoffnungen geteilt hat.

Zwei Beispiele, die zum Hoffen und Vertrauen aufmuntern, daß die Söhne von jenen, die gegen den eigenen Willen zu uns geschlagen wurden, mit aller Inbrunst und Ueberzeugung Italiener sein werden, um die Lauheit der Väter wettzumachen: ein Wunsch, der unverfehlbar Wirklichkeit werden wird, wenn wir treu zur Methode stehen, die unser alter Stamm bei seiner Assimilierungsarbeit immer angewendet hat: unbedingte Achtung des Gewissens der anderen, ganz entschiedener Verzicht auf jede Gewaltanwendung, sei sie tätlich oder auf dem Gebiete der Gesetzgebung. Bewahren wir uns eine ruhige, klare Haltung, frei von Ungeduld, auf die Anziehungskraft der eigenen Kultur vertrauend, auf die Geistesgaben unseres Stammes, auf den Zauber, der dem Genius entspringt, der Europa die Auferstehung des Rechtes, die Renaissance der Kunst und das wissenschaftliche Wiederaufblühen geschenkt hat: Die Haltung der jenigen, die im Kampfe Geduld haben möchten, so lange, bis die einzig entscheidende Siegesstunde schlägt, in der der eroberte Feind die Waffen von sich wirft und den Sieger um die Umarmung des Bruders bittet.“

Mit dieser Betrachtung schloß im Jahre 1925 der heute berühmte Rechtshistoriker Professor Carlo Arturo Jemolo einen Aufsatz über das alte Oesterreich, der in einem Sammelwerk über das 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde. („Europa nei Secolo XIX.“, Padua 1925.)

Selbst einem erbitterten politischen Gegner Prof. Jemolos würde es schwerfallen, den römischen Gelehrten als Chauvinisten hinzustellen; seine reichhaltige publizistische Tätigkeit bewegt sich in ganz anderen Bahnen. Wie war es daher möglich, daß der bekannte Forscher eine so verfehlte Zukunftsprognose aufstellen konnte? Niemand wird die von Prof. Jemolo indirekt erwähnten liebenswürdigen Eigenschaften des italienischen Volkes bezweifeln, die ja gerade in der Gestalt des römischen Gelehrten in gewinnender Weise verkörpert werden. Der aufmerksame Beobachter wird aber in den Ideen des italienischen Risorgimento die Beweggründe suchen, die die Geschichte der sprachlichen Minderheiten Italiens in so ganz andere Bahnen gedrängt haben als die in der oben- stehenden Betrachtung vorgezeichneten. Giuseppe Mazzinis Gedanke der „Nazione Guida“, der allen anderen Nationen überlegenen »Führernation“ Italien, hat doch die italienische öffentliche Meinung und die von dieser geschobenen Politiker so unheilbringend beeinflußt: Ungeheuer kostspielige koloniale Abenteuer und vor allem die Intervention in zwei Weltkriegen waren die Folge davon. Aber eben diesem Gedanken der eigenen Ueberlegenheit begegnet man doch auch in Prof. Jemolos Ausführungen. Es scheint für ihn unmöglich zu sein, daß eine kleinere Sprachgruppe im Staate eines größeren, kulturell vielleicht überlegenen Volkes leben kann, ohne dabei ihre volkliche Eigenart zu verlieren. In diesem Zusammenhang ist es aber interessant, daß derselbe Autor gegenüber dem ungeschmälerten Bestand der Tschechoslowakei große Bedenken äußerte. Seiner Ansicht nach wäre es wohl möglich gewesen, die Sprachinseln zu tschechisieren, aber er meinte, es würde auf die Dauer sehr schwer sein, eine Einverleibung des „Eger- landes“ durch Deutschland zu verhindern, da eben sprachliche Minderheiten, die mit dem eigenen Volk in direktem Kontakt leben, kaum absorbiert werden könnten. Es ist daher befremdend, daß Prof. Jemolo heute in jenen Kreisen politisch und publizistisch tätig ist, die die Vertreibung der Volksdeutschen als gerechte Lösung bzw. Strafe ansehen.

Im laizistisch-demokratischen Lager Italiens werden ab und zu Stimmen laut, die die 1918 19 erfolgte Einverleibung nichtitalienischer Bevölkerungen in den italienischen Staatsverband scharf verurteilen und als Machwerk nationalistischer und imperialistischer Kreise verwerfen; so der greise Historiker Gaetano S a 1 v e m i n i (vergleiche z. B. dessen Werk »Mussolini Diplo- matico“, Anhang B und C) und die hochbetagte Signora Ernesta B a 11 i s t i, die Witwe des berühmten Trientiner Irredentisten Cesare Battisti. Letztere veröffentlichte im Mai 1951 in der Florentiner Zeitschrift »II Ponte“ einen langen Aufsatz, in dem sie darlegte, daß auch Cesare Battisti die Forderungen der italienischen Nationalisten, wie Federzoni, Tolomei und besonders auch Mussolini, nach Angliederung der deutschsprachigen Gebiete nördlich Salurn immer abgelehnt habe, weil eben die beiden Völker nicht zusammen leben könnten. Im Grunde genommen derselbe Standpunkt wie der von Professor Jemolo, nur daß eben dieser die Grenze aus militärischer Notwendigkeit an den Brenner verlegt und die annektierte deutschsprachige Bevölkerung mit aller Liebenswürdigkeit italianisieren möchte.

Alles zusammen ist nur ein erneuter Beweis, daß man das Ideenerbe Mazzinis, der Französischen Revolution und deren geistiger Väter nicht mehr zur Lösung zeitgenössischer Probleme anwenden darf, wenn die Beziehungen der Völker, nicht nur im eng- begrenzten Tirol, sondern in großen Teilen Europas, auf eine neue, friedlichere und fruchtbringendere Grundlage gestellt werden sollen.

Leider wagen es nicht einmal die Männer des linken Flügels der christlich-demokratischen Partei, gegen gewisse nationalistische Strömungen — man denke nur an den Milliarden verschlingenden, letztlich unnötigen Truppenaufmarsch von Triest — energisch Stellung zu nehmen. Sie fürchten den Verlust der Sympathien zahlreicher „national eingestellter“ Wähler; die Monarchisten und vor allem die der Industrie gehörende große Tagespresse würde jedes Nachgeben in nationalen Prestigefragen sofort auswerten. Die italienische Industrie steht aus Sorge vor der Liberalisierung allen europäischen Projekten sehr skeptisch gegenüber. Die Haltung der Kommunisten ist sowieso negativ, somit bleiben nur jene kleine Gruppen laizistischer Linksintellektueller, denen auch Prof. Jemolo angehört. Diese beharren zum Teil auf einem europäischen Programm, anderseits aber sind sie so in der Vergangenheit verwurzelt, daß die Europäische Einigung für sie zu einem Schreckgespenst der Heiligen Alliance geworden ist. Für sie sind Metternich, Kaiser Franz Joseph und Feldmarschall Radetzky entschieden gefährlicher als Malenkow, Molotow und die Marschälle der Sowjetunion.

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