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T. S. ELIOT UND DAS DRAMA

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}etzt, da Thomas Stearns Eliot, der zu England und Europa „konvertierte“ Amerikaner, die Welt der lebenden Literatur verlassen hat, ist die Zeit gekommen, sein erstaunliches Werk mit allen Widersprüchen als ein Ganzes zu begreifen. Es muß verlocken, die Beziehungen zwischen den Teilen, dem Frühen und Späten, dem Lyrischen, dem Essayistischen und Dramatischen sowie die Art, wie sie einander stützen, fördern und ergänzen, aufzuspüren. Eliot sah die höchste Möglichkeit und Würde der Dichtung darin, daß sie etwas von der Schöpfung, in die wir alle gestellt sind, gleichnishaft wiedergebe. Bemüht, das Innen und Außen der Welt gleichermaßen zu bewältigen, hatten es sich seine aufs feinste ausgebildete Sensibilität und seine Leidenschaft für das Sachliche zum Ziel gesetzt, „das Mannigfaltige und Komplexe unserer Zivilisation“ in artistischen Sprachformen erkennen zu lassen. Als Individualität eher scheu, uneitel, liebenswürdig, nobel, unauffällig humorvoll, war seine Dichtung durch Härte, Klarheit, Tiefe ausgezeichnet. Dieser große Amerikaner, der englischer wurde als die Engländer, hatte es fertiggebracht, von einer äußerst komplizierten geistigen Position aus den Eintritt in die Katholizität zu vollziehen. Er glaubte, daß die abendländische Welt durch einen christlich fundierten Humanismus gerettet werden könne und erklärte die Leere und Trostlosigkeit des modernen Denkens, Dichtens und Lebens als eine Folge des Abfalls unserer Welt vom Christentum. Schon 1927 hatte sich der Neunund-dreißigjährige in einem Vorwort „als Royalist in der Politik, Klassizist in der Literatur und Anglo-Katholik in der Religion“ bezeichnet. Zeitlebens war etwas von einer St.-Georgs-Gestalt an ihm, die in den Kampf mit nicht nur einem, sondern mit mehreren Drachen verwickelt war. Denn der Geistige, der sich der Zone des Geistlichen zu nähern wagt, wird von Schritt zu Schritt angefochten!.

Mit Recht konnte man Eliot ebenso einen „diskreten Revolutionär“ wie einen avantgardistischen Traditionalisten heißen. Von 1915 bis 1925 war er der kritische Intellekt, der Zweifler und Sucher gewesen. 1922 ließ er The Waste Land (Das wüste Land), seine berühmteste Gedichtfolge, erscheinen. Eine Rückschau auf die Öde europäischer Kulturlandschaft, berichtet sie kraß von der Verzweiflung des Menschen, der innerlichen Entseeltheit und Gottlosigkeit der Welt. Schwärzeste Erkenntnislyrik von großartiger, dunkler Schönheit und unerhörter Dichte, wollte sie (wie Dantes „Göttliche Komödie“) als ein Gang durch die Hölle (der Gegenwart) verstanden sein, der jenseits des Berges der Bitternis und letzten Zweifel die paradiesische Wiederentdeckung des unerschütterlichen Glaubens verkündet. Im selben Jahr (1922) erschienen James Joyces „Ulysses“, Rilkes „Duineser Elegien“ und die „Sonette an Orpheus“. „Das wüste Land“ enthält schon die Keime zum dramatischen Werk, wie denn das Streben Eliots nach voller Objektivierung in scharf geschnittenen Gestalten von der Frühe an festzustellen ist. Von Anfang an neigte der Lyriker Eliot zum Dialog, indes der Dramatiker auf Lyrik nicht verzichtet hat. Seine Meinung, daß sich Lyrik nicht zu sehr von der Alltagssprache entfernen dürfe, bezeugt seine Affinität zum lebendigen Wort, zum lebendigen Theater.

In der Mitte der zwanziger Jahre, da Eliot nach wie vor zwischen Verzweiflung und der Möglichkeit des Glaubens verharrte, erschien Sweeney Agonistes, „Fragment eines aristophanischen Melodramas“. Eliots Sweeney war der „Held“, der Babbitt, der Philister, der „petit Bourgeois“ der Nachkriegszeit. In der zweiten Szene des Fragments werden Töne (satirisch) angeschlagen, die später in der „Cocktailparty“ zu hören sein werden. Die Möglichkeit einer ernsthaften Konversion zum Missionar verliert sich in der Farce, die Sweeney aufführt. — 1934 erhielt Eliot anläßlich einer Geldsammlung für Kirchenbauten in neuen Wohnsiedlungen den Auftrag, in Gemeinschaft mit anderen Autoren an einem Festspiel mit dem Titel The Rock (Der Fels) mitzuarbeiten. In einem späteren Rückblick gestand er, daß die Einladung dazu in einem Augenblick kam, „da es mir schien, ich hätte mein lyrisches Talent erschöpft und nichts mehr zu sagen“. Er hatte Prosadialoge und Verse für den Chor zu verfassen. Schon damals gelang es Eliot, sakralen Inhalt mit prosaischen und lyrischen Texten zu kombinieren, eine Art, die Messe, Theater und Gedicht zueinander führte. „Wo ist die Weisheit, die wir in Wissen verloren haben? Wo ist das Wissen, das wir in Informationen verloren haben?“ fragt Eliot. Der Mensch der Stadt will statt Kirchen mehr Speisehäuser, will leibliche statt geistlicher Nahrung. Das „wüste Land“ ist unsere Gegenwart. Unsere Zivilisation irrt, und was bleibt nach dem Irrtum? Der Nachruf über den Ruinen: „Hier waren anständige, gottlose Menschen, ihr einziges Monument die Asphaltstraße und tausend abhanden gekommene Golfbälle.“ Der perfekte Eisschrank, statistisch errechnete Sterb-, lichkeitsziffern, die Höohstzahl gedruckter Bücher: das ist unsere „Kultur“ aus der Perspektive unserer „fortschrittlich rückwärts avancierenden“ Epoche.

Von diesem Festspiel gehen die Entwicklungslinien zu der von Eliot 1935 für Canterbury verfaßten Tragödie Murder in the Cathedral, dem ersten Werk, das den Namen des Dramatikers Eliot über die Bühnen Europas trug. Der geschichtliche Hintergrund ist die Ermordung des Primas von England, Thomas Becket, vor dem Altar von Canterbury. Der exemplarische Fall dieses Staatsverbrechens (Ende Dezember 1170) hatte die damalige Christenheit in außerordentliche Erregung versetzt. Uralt-ewige Konflikte zwischen weltlicher und geistlicher Macht führten wie zu dem Gang von Canossa, so auch zu diesem Mord im Dom. Zweierlei wollte Eliot erreichen: in eine besondere geschichtliche Epoche zurückführen, ohne ein „historisches“ Spektakel zu veranstalten, und auf die „zeitgenössische Relevanz der Situation“ hinweisen, ohne tendenziös zu wirken. Er übt nicht nur Kritik an dem historischen Einzelfall, sondern an den Grundübeln menschlichen Gebarens: Gewalftätigkeit, Ehrgeiz, Eitelkeit, Feigheit, Verlogenheit, Gemeinheit. Den allzu menschlichen Menschen gegenüber steht der heilige Becket, dem schwankenden Königtum der Fels der Kirche. Eliots Mysterienspiel ist ein Produkt der christlichen Sorge und der Verzweiflung in arger Zeit. Zugleich aber auch ein Produkt hohen Künstler-tums. Die ahnungsvollen Klagen der Frauen von Canterbury (des Chores), die scharfen Wortgefechte zwischen dem Erzbischof und seinen Versuchern, den vier Rittern, und, nach dem Sieg über den gefährlichsten von ihnen, die große Weihnachtspredigt in ihrer durchsichtig klaren Spiritualität ergeben ein monumentales poetisches Requiem ohne Handlung, voll von Betrachtung und voll von handelnder Lyrik äußerst aktiver Metaphern, wobei dem überpersönlichen Chor ganz neue Aufgaben zugedacht wurden. So ist dieses Spiel in besonderem Maße an die Sprache gebunden. Die Aufführungen in Canterbury, mit machtvollem chorischen Unisono, sollen unvergeßbar gewesen sein. (Das Burgtheater brachte Eliots Werk im Juni 1952 zu einer eindrucksvollen Freilichtaufführung mit Ernst Deutsch als Becket auf dem Platz vor der Jesuitenkirche.)

Eliot ging es um die Wiedererweckung des Versdramas. Die Charaktere und die Situation im „Mord im Dom“ sollten real wirken. Es mußte möglich sein, Menschen unserer Zeit mit Versen so anzusprechen, daß sie diese Sprache akzeptierten und das Gefühl hatten, sie könnten selbst so sprechen. Eliots Ehrgeiz war und blieb es, so in Versen zu schreiben, daß die dramatische Intensität einen Höhepunkt erreicht, der das Publikum fühlen läßt, dies könne nur in Versen gesagt werden. „Was man hört“, erklärt Eliot, „ist nicht Poesie, sondern der Sinn der Dichtung.“ „Seit je neigt man dazu“, sagt Eliot in dem ausführlichen Essay Ein Gespräch über dramatische Dichtung, „den Vers als eine Beeinträchtigung des Dramatischen aufzufassen. Man sagt, der Empfindungsbereich und die Lebenswahrheit des Dramas würden durch den Vers begrenzt und geschmälert. Nur die Prosa vermöge die ganze Tonleiter unseres heutigen Empfindens zu vermitteln, nur sie könne der Wirklichkeit gerecht werden. Aber ist nicht jede Darstellung in der Form des Dramas künstlich? Die Menschenseele hat in Zuständen tiefer Erregung das Bestreben, sich im Vers Ausdruck zu schaffen. Es wäre Sache der Neurologen, herauszubekommen, warum sich das so verhält und warum und inwiefern Empfindung und Rhythmus in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen. Jedenfalls neigte das in Prosa geschriebene Drama dazu, das Alltägliche und Nebensächliche übermäßig zu betonen; wenn es uns darauf ankommt, das Dauernde und Allgemeingültige zu erreichen, so drücken wir uns gern im Vers aus... Wir können niemals mit Musik in Wettbewerb treten. Käme die Sprache so weit wie die Musik, so würde die Dichtung, zumal die dramatische, aufgehoben. Dennoch- steht mir eine Art Fata Morgana des vollendeten Versdramas vor Augen, ein geglückter Wurf, der Handlung und Wort, das Doppelgesicht des dramatischen und musiali-schen Gesetzes, harmonisch zum Ausgleich bringt,“

Hatte Eliot in „Mord im Dom“ Elemente der antiken Tragödie mit dem christlichen Märtyrerdrama zu vereinigen versucht, so brachte er in den künftigen Versdramen antike und christliche Vorstellungen in die Form des viktorianischen Gesellschaftsstückes, wodurch jene seltsame Mischung von modernem Konversationsstück und Mysterium entstand, die für den Dramatiker Eliot so typisch ist. Im März 1939 wurde The Family Reunion uraufgeführt. Der Familientag eröffnet vor versammelter Verwandtschaft die lange und erregte Auseinandersetzung, nachdem der älteste Sohn heimgekehrt ist, seiner „Tat“ wegen verfolgt gleich Orest von den Rachegöttinnen, den Eumeniden. Bei einem Sturm im Atlantik hatte er seine Frau über Bord gestoßen — oder stoßen wollen, was offen bleibt. So gut wie nichts weiß der Verirrte und Schuldiggewordene von den schicksalhaften Verstrickungen der Vergangenheit. Aus der Lüge erwuchs der auf der Familie lastende Fluch, welche die Menschheit versinnbildlicht und deutlich die Zeichen des Verfalls trägt. Sehend geworden, nimmt der Sohn die Schuld der Familie auf sich. Er flieht nicht mehr vor den Eumeniden, sondern geht mutig den „Weg der Pilgerschaft zur Entsühnung“. Alles, was der Zuhörer an bündiger Aussage durch den Chor erfährt, ist typisch für alle Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen in Zeitlosigkeit, „Der Familientag“, Eliots anspruchsvollstes Bühnenstück, ist auf diese Weise ein existen-tialistisches Drama mit ungefähr dem gleichen Thema wie Sartres „Die Fliegen“ geworden: dem Verbrechen des Orest, seiner Erinnyenvision und seinem Bewußtsein von Schuld und Reue. In ähnlicher Weise wie Sartre übersteigert Eliot die traditionellen Absichten der Tragödie: die Läuterung der Leidenschaft durch Mitleid und Furcht. Was immer auch Eliot selbst später an dem Stück auszusetzen hatte, es gehört seines geistigen Gehaltes und der Kraft und Kühnheit seiner Sprache wegen zum Besten, was er dem Theater gegeben hat. (Das Schauspiel wurde im Februar 1960 im Kleinen Theater der Josefstadt im Konzerthaus mit Helene Thimig, Angela Sallocker und Walter Kohut in den tragenden Rollen aufgeführt.)

Im Jahre 1948 fiel der Nobelpreis an T. S. Eliot. 1950 entstand The Cocktail-Party. Die Problematik dieser Verskomödie liegt in der Frage: „Können wir alle tatsächlich nicht lieben und nicht geliebt werden?“ Und in der erschrek-kenden Antwort darauf: „Dann ist man allein.“ „Die Hölle“ aber, heißt es an einer entscheidenden Stelle, „ist man selbst, allein. Die anderen Gestalten darin sind nur Projektionen.“ Das ist Eliots Erwiderung auf Sartres: „Die Hölle, das sind die andern.“ Nach Eliots Grundeinstellung ist die verlorene, in die Verdammnis gestürzte Kreatur der lieblose, kontaktlose, selbstvereinsamte Mensch. Dieser Hölle entrinnt Celia, eine junge Dame der Londoner Gesellschaft, die aus dem „Glauben, der aus der Verzweiflung erwächst“, die Kraft gewinnt, den Opfertod als Pflegerin von Pestkranken in der Wildnis zu erleiden. Das alles vernehmen wir während des heiteren Geplauders auf der Cocktailparty des erfolgreichen Anwalts Chamberlyne, der sich selbst in einer Ehekrise befindet. Wir sind bestürzt, als diese Krise uns eine weit bedeutsamere, die Krise der Menschheit, enthüllt. Aber Gott offenbart sich auch im Salon und sendet Seine Spürhunde, Boten und himmlische Wächter dahin. Bei Eliot ist es vor allem ein soignierter Seelenarzt und seine beiden Helfer, die als Werkzeuge eines Höheren erscheinen sollen. Doppeldeutig wie alle Figuren dieser Komödie, mühen sie sich um die Rettung des Menschen „in einer Welt voll Wahnsinn, Gewalt, Dummheit und Gier“. Obwohl reich an komödiantischen Elementen, ist es nicht leicht, sich in den verschlüsselten, dunklen Sinn dieser Gesellschaftskomödie hineinzuhören, die das Alltägliche unter den Aspekt des Ewigen stellt. (Im Februar 1951 wurde die Aufführung im Akademietheater unter der Regie von Berthold Viertel mit Attila Hörbiger, Alma Seidler, Ewald Baiser und Eva Zilcher in den tragenden Rollen zu einem szenischen Erlebnis von hohem Glanz.)

Vordem war Eliot noch auf geheimnisvoll befremdende Figuren, auf „Eumeniden“ und „Wächter“ angewiesen, um die transzendenten Bezüge des Menschen aufzudecken. Die Komödie The Con/identtal Clerk (Der Privatsekretär) hat dieses Mittel nicht mehr nötig. Eliot jongliert hier förmlich mit dem Thema der verlorenen, vertauschten, gefundenen Kinder, mit Töchtern ohne Mütter, Söhnen mit zwei Vätern, Eltern, die keine sind oder doch andere Kinder haben als die, von denen sie glaubten, sie wären die ihren. Ausgesetzt und verloren, will Eliot sagen, sind wir allein durch Gnade und Wunder zu finden. Wie lächerlich, das Mysterium des menschlichen Ursprungs durch Nachforschungen der Vererbungslehre und amtliche Register erklären zu wollen! Völlig aus den Gesetzen des Theaters entwickelt, wird hier jede Person dieses neuerlichen Familientages aus sich heraus schlüssig, sowohl als alltägliche Realität wie als Verkörperung symbolischer Bedeutung. (Die Komödie wurde im Frühjahr 1955 im Akademietheater mit Attila Hörbiger, Alma Seidler, Inge Conradi, Josef Meinrad und anderen aufgeführt.)

Eliot hatte die Siebzig überschritten, als 1959 sein fünftes und letztes Bühnenwerk, The Eider Statesman erschien. „Ein verdienter Staatsmann“ blickt zurück, zieht die Lebenssumme. Lord Ciaverton, die Gestalt des alt gewordenen Mannes, der durch eine Scheinwelt hindurch ist, fühlt sich an ihr tief mitschuldig. Aber man kann die „Gespenster seiner Vergangenheit“ loswerden durch Bekennen und Reue. Das ganze Stück ist ein „Gerichtstag“. Vielleicht auch Eliots eigenes Gericht? Sich verlieren, um sich zu finden, das war die Weisung der Mystik, die T. S. Eliot in die Lebensprobleme unserer Tage hineintrug. Eliot schuf sich neu im Bild dieses „Staatsmannes“. In dem großen Bekenntnis am Ende des Stückes heißt es: „Ich bin befreit worden von dem Selbst, das vorgibt, jemand zu sein — und indem ich niemand werde,' fange ich an zu leben.“ (Das Stück gelangte im April 1961 im Volkstheater mit Hans Frank als Staatsmann zur Aufführung.)

■p\ie .Größe' eines Dichters“, schrieb Eliot einmal in einem 9)U Vorwort, „ist keine Frage, welche die Kritiker seiner eigenen Zeit aufwerfen dürfen; erst nachdem er einige Generationen tot gewesen ist, fängt der Begriff an, sinnvoll zu werden.“,Größe' ist, wenn der Begriff überhaupt Sinn haben soll, ein Attribut, das die Zeit verleiht. Dem zeitgenössischen Kritiker steht zunächst die Frage nach der Redlichkeit' zu.“ An der ist bei Thomas Stearns Eliot, der am 4. Jänner 1965 im Alter von 76 Jahren in London starb, nicht zu zweifeln.

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