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TAGANROG

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(6. Fortsetzung)

Der Zar sammelte die ganze Kraft seiner Seele: „Ich verstehe Sie vielleicht nicht ganz. Glauben Sie an Jesus Christus?“ Murawiew sah ihn fassungslos an: „Ich glaube an den Willen Gottes, an seinen Plan, an das Gebot, das er dem Menschen gegeben hat. Mehr brauche ich nicht.“ — „Aber begreifen Sie denn nicht, daß das nicht von Ihnen abhängt und von Ihrem Bedürfnis? daß vielmehr Christus der Herr vor Ihnen steht und sie einfordert?" Murawiew stand auf: „Sie wollen mich verwirren. Warum richten Sie mich nicht? Übergeben Sie mich den Schergen Araktschejews, die mögen mit mir verfahren wie mit unzähligen andern in den finsteren Verliesen, über die Sie Gewalt haben. Das ist Ihves Amtes. Weiter reicht Ihr Amt nicht.“ „Nein“, sagte Alexander ruhig, „Sie sind noch nicht am Ziele; Sie haben bis heute vielleicht das Wirken Christi noch nicht erfahren. Er ist Ihnen noch aus keinem Menschen entgegengetreten, und wenn Sie mir daraus einen Vorwurf machen, so haben Sie recht. Sie sind noch auf dem Wege zu ihm, und ich will diesen Weg nidit abbrechen. Gehen Sie; denken Sie daran, daß Er mächtig ist." Murawiew sah den Zaren zweifelnd an;- dann wich er mit einer eigentümlichen Bewegung zurück: „Ich sehe, Sie gehören nicht mehr in die Welt, in der Sie noch stehen. Sie sind Ihres Throns und der Macht, die Sie einmal so rücksichtslos ergriffen haben" — diese Worte sprach er mit verletzender Schärfe —, „sehr müde geworden“. Der Zar hatte die Tür geöffnet. Nun stellte sich Diebitsch zwischen die Schwelle und den Obersten: „Ich bitte Eure Majestät, den Gefangenen vernehmen zu dürfen." — „Er ist kein Gefangener mehr; er ist frei.“ Der General bewegte sich nicht von seinem Platze. Da sprach Alexander: „Ich ersuche Sie, den Obersten gehen zu lassen. Was ich zu wissen wünschte, habe ich von ihm erfahren.“ Jetzt trat Diebitsch zurück; Murawiew verließ das Haus und entfernte sich landeinwärts, lange noch verfolgt von den Blicken des Zaren, der erst vom Fenster ging, als der Wanderer unsicheren Schrittes zwischen den Hängen des Gebirges entschwand. Als Alexander Diebitschs Zimmer wieder betrat, lag der Ausdruck tiefer Ermüdung und Erschütterung auf seinem Gesicht; er sprach von Dingen, die in keiner Beziehung zu dem Vorgefallenen standen; dem General war es anzumerken, wie schwer er seine Bestürzung, vor allem aber seinen Unwillen über die Entlassung des Attentäters bezwang.

Diebitsch verstärkte die Wachen. Wenige Stunden darauf wurde er durch die Meldung überrascht, daß der Hauptmann Maiboroda, der einem weit entfernt im Norden liegenden Regiment angehörte, ihn zu sprechen wünsche. Der Hauptmann trug die Spuren eines sehr langen Rittes auf seinem übermüdeten Gesicht; atemlos fragte er nach dem Ergehen des Zaren. Diebitsch war ihm entgegengegangen, während die Wache noch an der Türe stand: „Sie vergessen, daß es an mir ist, eine Frage zu stellen. Wer, hat Sie beurlaubt? Was wünschen Sie?“ — „Lebt der Zar?“ fragte Maiboroda dagegen. „Ist hier nichts geschehen? Der Oberst Mura-, wiew… Wo ich durchkam, wurde mir gesagt, daß er schon vorüber sei. Sie müssen wissen, ich war tagelang auf seiner Spur.“ Nun entließ Diebitsch die Wache. „War er denn nicht hier?“ rief Maiboroda in äußerster Erregung. „Er war es“, ahtwortete Diebitsch ruhig; „er machte einen Versuch, seine Absicht zu erreichen; aber der Versuch scheiterte. Darauf wurde der Oberst entlassen“. — „Entlassen? Aber wissen Sie denn nicht, daß er im Auftrag einer höchst gefährlichen Verschwörung gekommen ist? — „Madien Sie Ihre Aussage vor dem Zaren“, erwiderte Diebitsch nach kurzem Bedenken. Maiboroda hatte sich gefaßt; er berichtete, daß er eine ihm aufgetragene Dienstreise benutzt habe, um den Herrscher im letzten Augenblick zu warnen und ein Komplott zu vernichten, das vor vielen Jahren angelegt wurde und sich durch ganz Rußland verbreitet hatte. „Können Sie das Haupt der Verschwörung nennen?“ fragte Diebitsch. „Ich kann es“, erwiderte der Hauptmann, schwer aufatmend; „es ist der Oberst Pestei“. — „Das ist der Oberst ihres Regiments“, warf Alexander mit tonloser Stimme ein; „wie kommt es, dsß Sie Ihren Vorgesetzten bezichtigen?" — „Ich will nichts verschweigen: wir haben uns entzweit; ich selbst gehörte der Verschwörung an.“ — „Pestei“, sagte der Zar vor sich hin, „Kommandeur des Wiätzkyschen Regiments; er wurde am Hofe unter den Pagen erzogen; meine Mutter und ich selbst haben uns öfter für ihn verwandt.“ — „Sein Ehrgeiz ist grenzenlos“, fügte Maiboroda hinzu; „er verlangt nach der größten Tat und sucht sie im größten Verbrechen.“ Diebitsch wandte sich wieder an den Hauptmann: „Da Sie so weit gegangen sind, werden Sie auch die Namen der übrigen Verschwörer nicht geheimhalten." — „Einige", antwortete Maiboroda, „kann ich nennen: der Staatsrat Juschnewsky, der Fürst Bariatynsky, der Oberst Awramow.“ Die Namen trafen Alexander wie tödliche Schläge; er sprach sie langsam nach und wiederholte sie dann, aĮs Wolle er sie sich eingewöhnen; seiner Bewegung kaum mehr mächtig, erhob er sich, dem General das Verhör überlassend. Erst gegen Abend verlangte er Maiboroda noch einmal zu sehen. „Ich habe“, sprach er ihn an, „nicht das Gefühl, daß Sie aus Treue zu mir gehandelt haben. Sie haben ja auch nicht alle Verschwörer genannt, sondern Ihnen näherstehende wohl ausgenommen. Daß Sie sich jetzt schon um die Macht gestritten haben, nach der Sie greifen wollten, ist möglich. Aber ich suche doch etwas anderes hinter Ihrer Tat. Sagen Sie es ruhig: Warum haben Sie erst mich verraten und dann Ihre Gefährten?“ — „Ich habe die Namen derjenigen genannt, die ich für untauglich halte“, erwiderte Maiboroda fest. „Pestei und seine Freunde träumen von einer gemäßigten Verfassung. Vielleicht wollen sie nicht mehr, als das Alte retten. Nur ist es ihr Ehrgeiz, das mit Hilfe eines Verbrechens zu tun. Eines Abends, als ich — zum wievielten Male, weiß ich nicht mehr — ihnen zuhörte, wie sie von ihren Träumen redeten — einem ganz törichten Gemisch aus Macht und Glück —, wurde es mir plötzlich deutlich, wie einsam ich unter ihnen war; sic würden Rußland nur auf den Weg Frankreichs führen; das Feuer verbrennt am ersten Tag, dann bleibt alles beim alten. Aber dafür lohnt es sich nicht. Sie alle spielen mit der Vernichtung, ohne den Mut zu ihr zu haben. Als ich Pestei äm letzten Abend fragte, wie er sich die Zukunft denke, erwiderte er, daß er zehn Jahre lang herrschen wolle, um das durchzusetzen, was er seine neue Ordnung nennt; — dann wolle er in ein Kloster in Kiew gehen und dort als Einsiedler leben. Sie alle sind gebunden, darum haben sie auch einen Narren wie Murawiew gesandt.“ — „Warum sagen Sie das mir?“ fragte Alexander, seine Fassung mit Mühe bewahrend. „Weil Sie, sobald Sie es wissen, in meinem Sinne handeln müssen. Sie müssen Pestei und seine Anhänger töten lassen; dadurch werden Sie die schlimmste Gefahr vernichten, die meiner Sadie droht. Denn die schlimmste Gefahr geht von denjenigen aus, die nicht Ernst machen können mit dem Nichts und das Ziel auf irgendeine Weise vor sich selber verschleiern. Wie armselig ist ihre Rechnung! Sie meinen, der Teufel werde ihnen auf ein paar Jahre grobe Arbeit tun, dann könnten sie mit Gott wieder beginnen. Von diesen Halben scheide ich mich; ihr Tod ist mit meinem Leben nicht zu teuer bezahlt.“ Alexander blickte schweigend in den Ungeheuern Abgrund, der sich vor ihm und dem Sprechenden öffnete. „Sind Sie allein?“ fragte er endlich. „Oder denken schon viele wie Sie?“ — „Nein, ich bin nicht allein, aber einsam. Doch wenn ich allein wäre, was wollte das sagen? Ich habe diese Gedanken gedacht; und Gedanken, die einmal gedacht wurden, werden wieder gedacht werden, ganz gleichgültig, ob der lebt oder stirbt, der sie als erster ausgebildet hat. Ich habe die Bresche in die Wand geschossen, sie wird nun nicht mehr heil.“ — „Haben Sie nie etwas in Ihrer Seele erfahren, das diesem Gedanken widerspricht?“ — „Nur Schwäche; Sie sehen aber, daß ich bestrebt bin, sie niederzuringen; es mag wohl ein Geschlecht kommen, dessen Ruhm es sein wird, das Nichts heraufzuführen.“ Wieder war der Zar außerstande, das Gespräch fortzusetzen; der Hauptmann wurde der Wache übergeben. Lange hernach fand Ilja seinen Herrn im Arbeitszimmer auf den Knien; der Zar erhob sich; kein Tröst, kein Licht lag auf seinen Zügen.

(Fortsetzung folgt)

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