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TAGANROG ERZÄHLUNG

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Mit Genehmigung des Verlages Herder

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(3. Fortsetzung)

Die Stadt lag noch, unter dem tiefen Dunkel des bedeckten Nachthimmels, als der Zar den Wagen bestieg; er ließ die Türen des Palastes, aus denen die Helle strahlte, rasch wieder schließen, während er sich in seinen Mantel hüllte. So fuhr er eilig durch die lichtlosen Straßen, bis sich der hohe, unbestimmte Umriß des dem heiligen Alexander Newsky geweihten Klosters aus dem Dunkel hob. Eben begann der Gesang in der verschlossenen Halle; nun öffnete sich das Portal der Vorhalle, und der Metropolit Seraphim grüßte, umgeben von seinen Archi- mandriten und Mönchen, segnend den Zaren. Das Tedeum begleitete die Schritte Alexanders, der tiefgebeugten Hauptes sich dem Altarraum näherte. Er kniete nieder, während die Priester die Stufen im Altarraume emporstiegen; dann legte er den Degen ab und folgte dem Metropoliten durch die Pforte der mit Ikonen geschmückten Wand, die den Mittelraum vom Heiligsten trennte. Die Kerzenflammen bauten ein schimmerndes Gewölbe über der Stelle, wo der Zar auf den Knien lag, ohne den Blick zu erheben. Niemand war ihm gefolgt. Als der Metropolit sich der Seite des Evangeliums näherte, erhob sich der Zar, um zum Altar zu gehen und sich zur Rechten des Priesters auf die Knie niederzulassen. Seraphim legte ihm das schwere Evangelienbuch auf das gesenkte Haupt und las mit leiser Stimme das Wort des Herrn. Nach der Messe warteten die Mönche am Tore auf den einsamen Beter, der noch immer vor dem Altar am Grabe des Heiligen kniete, nachdem er durch einen Wink die Lichter hatte löschen lassen; nun schritt er langsam aus dem Dunkel in den Schein der Kerzen, wie gebeugt von einer Last, die er vielleicht vergeblich vor dem Herrn hatte niedersetzen wollen. Demütig empfing er aus den Händen des Metropoliten ein Kreuz, das ihn auf seiner Reise begleiten sollte. Er dankte den Mönchen für ihren Gesang und bat sie, für ihn in der folgenden Zeit mit besonderer Liebe zu beten; er habe, wie sie wüßten, schwer mit den Mächten zu ringen, deren Gewalt wohl am stärksten sei auf der Höhe der Heiligkeit, und dann, sehr ferne davon,, im Umkreis des Thrones; von ganzem Herzen bitte er sie, ihn gerade jetzt nicht zu verlassen und aller draußen im weiten Rußland sich anzunehmen, deren Seelen umstrickt seien von den Mächten. Seine Gebete seien so schwach, daß er die ihren auf keine Weise vergelten könne; aber herzliche Liebe wolle er ihnen bewahren. — Er wollte sich eben dem Dunkel wieder zuwenden, das draußen wartete, als der Metropolit ihn fragte, ob er wohl die Zelle des Vaters Alexej, eines heiligmäßigen Einsiedlers, besuchen wolle, der seit einiger Zeit aus den Wäldern an der Wolga in das Kloster gekommen sei. Der Vorschlag schien dem Zaren Freude zu machen; er willigte ein.

Sie erreichten die Zelle auf dem Wege über den Klosterhof. Da die Tür sich öffnete, erhob sich ein hodigewachsener Greis; sein Haupt rührte fast an die Decke des niederen Raumes. Eine matte Ampel schwankte in dem tiefdüstern Raume, dessen Wände mit schwarzen Tüchern bespannt waren; zur Seite, nöben dem mächtigen Schatten des Einsiedlers, erschien ein Kruzifix, das, vom Boden emporsteigend, fast die ganze Wand einnahm. Alexander fühlte sich so heftig bewegt, daß er den Metropoliten bat, zurück- zubleiben. Nun hörte er die Stimme des Einsiedlers, der ihn aufforderte, sich vor dem Kreuze zu verneigen. Alexander sank auf die Knie und verharrte lange in schweigendem Gebet; neben sich spürte er die mächtig sich emporringende Kraft des Heiligen, der sich gleichfalls auf die Knie geworfen hatte. Als er dem Greis in die geröteten Augen sah, wußte er, daß es kein Geheimnis vor ihm gab; während sie nebeneinander knieten, mußte ihm alles offenbar geworden sein. „Du sorgst dich um dein Land“, begann Alexej. „Ich bin alt und habe viele Dinge erfahren. Du weißt ja, daß man nicht in der Welt leben muß, um zu wissen, wie es mit ihr bestellt ist. Bis zum Jahre 1812 stand es sehr schlecht um Rußland; dann kam das große Feuer, in dem Moskau unterging, und es wurde besser. Der Dämon, der in unser Land cinbrach, hat es gereinigt. Aber seitdem ist Rußland wieder krank geworden; ganz gesund ist es seit langer Zeit nicht gewesen. Ich muß dir das sagen, denn du bist der Herr. Du mußt auf die Sitte achten und die Kirche schützen. Wenn aber nicht jeder deiner Diener unserem Herrn und Heiland verpflichtet ist, wird der rechte Dienst nicht getan, und es ist alles vergeblich, was du ersinnen und gewinnen magst. — Siehst du“, fügte er in anderem Tone hinzu, die Hand auf den Arm des Zaren legend, „deine Seele und die Seele Rußlands leiden dieselbe Not, und sie Haben denselben Feind. Wie lange bist du draußen in fremden Ländern gewesen! und was hast du dort gesucht? Die Welt hat dich nicht einmal verwirrt, du bist nur in die Welt geflohen. Das ist nun zu Ende, du mußt heimkehren. Aber die Lüge steht vor deiner Heimkehr und läßt dich nicht zurück in das heilige Rußland; das weißt du. Im heiligen Rußland wohnt der Herr, der die Wahrheit ist.“ Er führte den Erschütterten in den anstoßenden Raum, der noch weit schmaler war als die Zelle. Hier stand ein offener Sarg auf dem Tisch, umgeben von brennenden Kerzen; der Sarg war mit einem Linnen ausgeschlagen, in dem sich das Haupt und die Gestalt des Einsiedlers eingedrückt hatten. „Dies ‘ist mein Bett, wie es das deine und das Bett aller Menschen ist", fuhr Alexej fort in demselben Tone starken Mitleidens, der alle seine Worte mit einer eigentümlichen Wärme durchdrang. „Seit ich hier schlafe, habe ich die Lüge überwunden. Du mußt die Wahrheit an der Stelle deines Lebens ergreifen, wo du sie verloren hast. Dann wird es licht werden in dir; und wenn wir alle so tun, wird es vielleicht auch einmal, unter Gottes Gnade, licht werden in Rußland. — Ich glaube", setzte er leise hinzu, „du kennst jene Stelle wohl, aber du wagst sie nicht zu betreten.“ Schluchzen schüttelte den Zaren; Alexej schloß ihn in die Arme: „Mein armer Bruder, mein armer Sohn“, sagte er tröstend, „ich werde für dich beten; fürchte die Menschen nicht, du bist auf einem guten Wege."

Hinter dem Wagen des Zaren hatte sich der des Generals Diebitsch eingefunden. Noch hatte sich das Dämmer nicht zerstreut; ein unbestimmter Herbsttag schien bevorzustehen. Alexanders Blicke hingen während der Fahrt unverwandt an den Türmen der. Kathedrale St. Peters und St. Pauls, die, von. den dunklen Wällen der Festung umgebep, die Gebeine seiner Väter beschützten. Auf einer kleinen Erhebung än der Grenze der Stadt gab er Ilja dem Kutscher, einen Wink; der Wagen hielt, und in weitem Abstand hielt auch der Wagen Diebitschs. Eben erreichte ein fahles Licht die aufblitzenden Türme, während die flache Häusermasse irry, Schatten schwerer Wolkenbänke lag. Der Za? erhob sich und blickte lange auf die Stadt zurück; seine Lippen bewegten sich, vielleicht um Abschied zu nehmen, vielleicht um ein Gebet zu sprechen. Zarskoje Selo erschien und verschwand mit seinen langen Fronten und kalt glänzenden Scheiben in der Ebene. Dann begann das eintönige Kommen und Fliehen der Flächen, der wenigen Gefährte und Ortschaften, das der Zar aus seinen früheren Jahren liebte. Nur auf den Stationen, oft vor dem Wagen stehend, während die Pferde gewechselt wurden, sprach er mit Diebitsch, der ernst und aufmerksam seine Weisungen erwartete, ohne sich in seine Gedanken zu mischen; da und dort ließ er Vorkehrungen treffen für die Reise der Kaiserin, die in wenigen Wochen in Begleitung des Fürsten Wolkonsky und des Arztes denselben Weg nehmen sollte. Die Heiterkeit früherer Jahre leuchtete zuweilen, von unübersehbaren Erinnerungen geweckt, in seinen Worten auf; aber immer wieder drängte er die Bilder aus den so oft durchfahrenen westeuropäischen Ländern zurück, als woljj er keinen Anteil mehr nehmen an dem reichen und glanzvollen Leben, das er jenseits der Grenzen Rußlands geführt.

In den ersten Tagen wurden die vorgesehenen Zeiten und Stationen so pünktlich eingehalten, wie es immer auf Alexanders Reisen geschah. „Wi sind eine halbe Stunde zu spät", sagte er, die Uhr hervorziehend, als eine schadhafte Straße sie aufgehalten hatte. Da mußte er lächeln über der Betrachtung des Zifferblattes: „Wie seltsam! Als ob nun wirklich keine Zeit wäre; und Himmel und Erde, auf die allein es ankommt, sind immer dieselben." Von da an verwischte sich für einige Zeit die Spur des Reisenden; vielleicht ist aber doch er es gewesen, der in einer der südlichen Militärkolonien, in einen dunklen Mantel gehüllt, an der Ecke einer Schenke lehnte und auf das herausschallcnde Gespräch der Gäste lauschte. Über den einförmigen, nach einem streng geometrischen Plan angeordneten Häusern dämmerte der Abend. Gesänge, aus denen unstillbares Heimweh klagte, hallten aus den Fenstern auf die breite, von vielen Furchen durchzogene Straße. Die Stimmen wurden heftiger. Ein Bauer beklagte sich bitter über die Unbill, die ihm Soldaten antaten; die Soldaten wieder warfen den Bauern vor, daß sie ihnen das Brot nicht gönnten. Nun mischten sich andere Bauern ein, deren Töchter und Weiber nicht sicher waren vor“ den, Nachstellungen der Soldaten. Einer, der a6s der Stadt gekommen war, nannte den Namen Araktschejews als des Urhebers namenlosen Unglücks; er sei daran schuld, daß man ihnen den Frieden genommen habe auf dem Lande und Bauern und Soldaten unter demselben Dache zusammensperrte, die sich doch nie vertragen hätten.

Ein Sergeant suchte den Minister zu verteidigen, aber Haß und Erbitterung antworteten ihm von allen Seiten; es kam zum Streite. Doch plötzlich rief eine trunkene Stimme den Namen des Zaren aus, der ihr Vater sei und von all dem Leid nichts wisse. Wenn der Zar wüßte, wie die Bösen sein Volk plagten, so würde er ihm helfen; er sei ein Engel, den der Himmel herabgesandt habe. Diese Worte fandeij dröhnenden Beifall; Bauern und Soldaten fielen einander in die Arme und tranken und sangen fort,- während dem. Lauscher die Tränen aus den Augen stürzten.

Er warf ein paar Münzen auf die Schwefle.. der Schenkentür und eflte -fort. — „Welch ein trauriges Märchen ist doch das Leben für unser Volk“, sagte er eines Morgens unvermittelt zu Diebitsch. Dann trennte er sich, nur in Gesellschaft Iljas, auch von Diebitsdv als die Wälder an der Wolga wie ein ruhe-;, voller Acker im mattgoldnen Lichte herauf-- stiegen. Der Wagen versuchte noch eine’ Strecke weit, auf der sumpfigen, überwachsenen Straße in den Wald zu dringen; .bald- aber blieb er stehen.

Um diese Zeit erschien bei den Frommen in den walaern ein Fremder, . zu . dem si rasch Vertrauen faßten. Schon daß er sich, als Kaufmann ausgab, weckte ihre Neigung.

Es gab viele reiche Kaufleute, namentlich unter den in Moskau ansässigen, die in den Wäldern Rast machten und den Frommen Nachricht brachten von ihren Freunden in . der Stadt und auf dem großen Lande. Solche;; Kaufleute waren auch ihre großmütigen Gönner. Der Fremde hörte dem Gesänge zu, der sich am Abend emporschwang über che mächtigen Kronen. Schulter an Schulter standen die Singenden im Kreis, in weiße Gewänder gekleidet und mit geflochtenen ‘ Gürteln gegürtet; sie begannen sich in der - Richtung des Sonnenlaufes zu bewegen, bis eine dunkle Gewalt sie ergriff und zu leidenschaftlichem Tanze trieb. Ihr Gesang verkündete mit furchtbarer Bestimmtheit den Fall des Bestehenden, den Aufgang einer ganz neuen Welt. Sie sollten sich Zusammenhalten als Schiffsleute, die sie waren, auf dem wildbewegten Meere des Herrn, beschützt vom Heiligen Geiste, von Peter, dem heiligen Zaren, und seiner Mutter. Denn der heilige Zar werde wiederkommen und zu Moskau die große Glocke der Himmelfahrtskathedrale läuten; er werde alles gläubige Schiffsvolk zusammenrufen, die Maste setzen, die nicht fallen, die Segel spannen, die nicht reißen, das Steuerruder ergreifen, das nicht schwank

Er werde den Anker werfen an sicherem Ort und mit ihnen heiliges Land betreten. Nun stürzten sie in furchtbarer Erregung auf die Knie; der Gesang verwandelte sich in Schluchzen, während die dunklen Vögel ruhelos kreisten über den Kronen und auf dem fernen Strome singender Widerhall sich langsam entfernte.

(Fortsetzung folgt)

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