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TAGANROG ERZÄHLUNG

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Mit Genehmigung des Verlages Herder

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(4. Fortsetzung)

Einzelne unter den Frommen, namentlich die Greise, lebten in Baumstämmen; die anderen hatten sich auf ihrer Wanderschaft durch die Wälder leichte Hütten gezimmert, in die sie den Fremden elntreten ließen. Er erschrak heftig, als er das Bildnis eines Gekrönten im Purpufmäiitel mit gewaltiger Krone fand, dem der Teufel ein Licht hinhielt. „Sei du der Vollstrecker meines Willens", war in altmodischen Zeichen über dem Bild zu lesen. Doch tiefer noch berührte den Gast das Bildnis eines Mannes, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem unglücklichen Zaren Peter HL batte; Leid und Trauer standen auf dem Gesicht geschrieben, das von einem schwarzen Bart umrahmt war; das Haupt war unbedeckt; ein blauer, mit schwarzem Pelze besetzter Kaftan umhüllte die Gestalt; auf das eine Knie, auf das die Hand sich stützte, war ein rotes Tuch geheftet, das heilige Zeichen der Selbstverstümmelung. Dies sei der Zär, erklärte ihm ein Greis, dessen Ankunft ihre Gesänge verkün- deteti; die Welt habe ihm viel Unrecht getan, aber unter ihnen, in den Wäldern, habe er Aufnahme gefunden und weit über sein hundertstes Jahr gelebt, Während eine Verworfene über Rußland gebot. Einst habe ein Kaufmann dem Zaren Paul von ihm erzählt, und dieser habe den Heiligen gerufen; in Begleitung einer Prophetin und zweier Propheten sei der Heilige in Moskau vor den Selbstherrscher ‘getreten, bereit, den Selbstherrscher als seinen Sohn anzunehmen, sofern ihm dieser als Verkünder der wahren Lehre Christi und dem Verwalter der Sache Christi auf Erden glauben woUe; doch Paul habe den Glauben verleugnet und den Heiligen ins Gefängnis werfen lassen, aus dem er auf wunderbare Weise wieder entwichen sei, so wie auch seine Vorgänger im Amte Christi der weltlichen Gewalt entgangen waren durch •Kerker und Folterkammern und selbst durch Gräber hindurch. Danjals sei der Fluch aufs neue und unabänderlich auf den Selbstherrscher und sein Haus gefallen. „Ist der Zar denn böse?“ fragte der Fremde. „Der Zar“, erwiderte der Alte, „zählt sein Volk; er steckt des Volkes Söhne in fremde, unwürdige Kleider und zwingt sie, Waffen zu tragen und ihm die Reiche dieser Welt zu gewinnen. Der Zar ist böse, denn er verlangt nur nach den Reichen dieser Welt. Aber einst wird der heilige Zar wiederkommen; er wird aus ejem Süden heraufziehen gegen Moskau; dort wird er die große Glocke läuten, die Gläubigen aus ihren Kerkern und Wäldern rufen und ein furchtbares Gericht über die

Ungläubigen halten. Dann wird des bösen Zaren Reich zerfallen wie ein, Pergament im Feuer, und das heilige Rußland wird Frieden haben. Denn die Christus lieben, sind Pilger und Fremdlinge, Schiffsleute auf dem rechten Schiff, und Tänzer und Sänger öl den Wäldern; die aber die Welt ergreifen, werden mit ihr untergehen wie mit einem morschen Boot.“

Der Fremde mach keinen Versuch, den Zaren zu verteidigen. Ob sie nicht für ihn beten wollten? fragte er nur; vielleicht sei er ein unglücklicher Mensch. „Still!“ erwiderte der Alte ihn heftig am Arm fassend; „wir nehmen keinen Anteil am Bösen; darum haben wir uns von der Welt geschieden, weil wir rein sein wollen. Kein Gebet errettet vorm Gericht. Kümmere dich nicht um den Zaren; du gehörst zu uns, und wir sind gerettet.“ So blieb der Fremde noch eine Weile uhter den Pilgern und hörte ihre Verheißungen än, die sich ganz im Wunderbaren verloren, in der festen Hoffnung auf eine all- Verwandelnde Stunde. Aber hinter diesen Verheißungen erdämmerte die Geschichte jahrhundertelangen verborgenen Leidens; Väter und Vorväter waren gejagt und gepeinigt worden von einer fremden, nach ihrer Seele verlangenden Gewalt. Einmal mußte etwas Furchtbares geschehen sein, mußte eine irdische Macht Anspruch erhoben haben auf die Heiligtümer der Seele, und seither wanderten die Geschlechter, die keine Heimat mehr hatten, hinaus in die Wälder, suchend und duldend und immer leidenschaftlicher hoffend. „Wißt ihr es so sicher, daß der große Tag kommen wird?“ wagte er einmal zu fragen. „Oh, wir wissen es“, erwiderte ein Weib, „er ist ganz nah; eines Morgens wird er hinter den Stämmen unseres Waldes aufleuchten in seinem hellen Schein; wir werden nicht sterben, eh er kommt.“ Dem Fremden schossen die Tränen aus den Augen. Am Abend, als er sich neben dem Alten schlafen legte, bat ihn dieser, zu bleiben; er tauge nicht mehr für die Weit. „Ich muß noch einmal hinaus“, erwiderte der Gast; „aber dann komme ich vielleicht wieder, und ich werde mit euch leben und beten.“ Lange wachte er noch, während der Wind mit den Kronen und dem Laubwerk der Hütte spielte; eh es hell wurde, stand er auf Und ging zwischen den Schläfern dem Waldsaume zu. Da er diesen erreichte, glühte ihm ein grelles Morgenrot entgegen, und nun hörte er auch, wie hinter den sieb entzünden-den Stämmen der Gesang sich erhob; es war die uralte, eintönige Melodie der großen Verheißung. —

In den ersten Tagen schien der Zar Mühe zu haben, sich in Taganrog anzugewöhnen. Noch war die Ankunft in dem bescheidenen, einstöckigen Hause eines russischen Kaufmanns nur notdürftig vorbereitet. Von der alten Unruhe ergriffen, durchschritt Alexander häufig die kleine, aus Stein- und Ziegelhäusern aufgebaute Stadt, die am Hange eines schroffen, kahlen Vorgebirges vor dem versandenden Meere lag; auf dem Platze vor dem Kloster der griechischen Mönche ließ er sich festhalten von dem heraustönenden Gesang. Dann sprengte er hinaus, um am Meeresufer der Mündung des Don entgegenzureiten. Der Fluß wälzte mit mächtiger, untergründiger Strömung die Sandmassen in das Meer; die Schiffe blieben weit draußen liegen, da sie den Hafen nicht mehr erreichten, und träge bewegten sich Ochsenkarren, beladen mit Waren und Menschen, durch die seichte Flut den Schiffen zu. Es kamen Stunden, wo die Sonne sich gleichsam verfing in dem farbigen, über dem stillen Meere schwebenden Gespinst aus Nebel und Dunst; verglutend, in riesiger Größe, mit verschwimmenden Rändern, hing sie fest über den Schiffen, die die Segel gestrichen hatten. Dann hielt Alexander an, während Ilja, als spüre er den Wunsch seines Herrn, weit zurückblieb. Ruhe schien in die Seele des Zaren zu kommen. Am Wege zog sich eine Kette seltsamer, kegelförmiger Grabmäler hin, die in der Unbestimmtheit aller Umrisse und Maße zuweilen wie hohe Hügel erschienen. Von einigen blickten verwitterte Häupter aus Granit fragend in die Weite hinaus, von anderen waren die Bildwerke herabgesunken in die Wälle am Fuße der Hügel, deren viele aufgebrochen waren; in dem dunklen Innern bleichte Gebein zwischen den Trümmern ausgeraubter Gefäße. Nun wurde in weiter Ferne ein Warenzug der Kosaken sichtbar, der unter langgedehnten Schreien von der Krim gegen Asow zog. Riesenhaft erschienen die hochbeladenen Dromedare mit ihren nickenden Schlangenhäuptern vor den Hügeln, während der Boden leise schwankte und hallte. Vögel wanderten in ruhelosen Kreisen mit dem Zuge. Dann und wann schwebte eine Felsenlandschaft, herübergespiegelt aus namenloser Ferne, über der Ebene und dem Meere) auf wilder Zacke, über die ein Gießbadi niederstürzte, stand ein zertrümmerter Turm, und dahinter gipfelte das Gebirge in furchtbarer Höhe. Aber das alles war gewichtlos wie der Dunst über dem Meere und die Schatten, die sich in ihm verloren. Alexander verspätete sich oft, bis plötzlich kalte Schauer aus der Flut stiegen; sie kamen vom Heimwege ab und hatten nur die in trügerischer Nähe auf dem Meere schwankenden Lichter zum Geleit; die Flut umspülte die Hufe der Pferde; es war, als wollten Nähe und Ferne, Land und Meer in einem geheimnisvollen Zwischenreich zusammenfließen.

Die Posten verspäteten sich, aber es schien dem Zaren keine Sorge zu bereiten; so gut es angehen wollte, überließ er dem General Diebitsch die Geschäfte. Dieser hatte sofort die Arbeit begonnen, während sich auf des Zaren Tisch, im Widerspruch zu der Gepflogenheit so vieler Jahre, die Schriftstücke ansammelten, die Diebitsch mit fester Hand für die Unterschrift vorbereitet hatte. Aber eben die Unterzeichnung fiel Alexander schwer; mehr als einmal legte er die Feder wieder beiseite; er rief Diebitsch aus dem Nebenzimmer herein, fragte und forschte, um sich auch geringer Einzelheiten zu vergewissern; doch war er wieder allein, so konnte er sich nicht entschließen. Ilji, der als einziger ohne besondere Erlaubnis ein- treten durfte, verstand, daß sein Herr über den Schriftstücken betete; er blieb an der Türe stehen und betete mit; nur als er am hellen Tage eine brennende Kerze auf dem Tisch sah, ging er erschreckt hinzu und drückte die Flamme aus. Alexander sah lächelnd auf: „Ah, ich verstehe: eine Kerzenflamme bei Tageslicht, das bedeutet ja, daß ein Toter im Hause ist.“ — Im ganzen lauteten die aus Moskau und Petersburg eintreffenden Nachrichten beruhigend; nach der rätselvollen Abreise des Zaren war offenbar Stille eingetreten; es konnte sein, daß die verborgenen Gegner doch überrascht worden waren.

(Fortsetzung folgt)

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