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Tagebuch der menschlichen Not

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Im Oktober 1949 ist in Oslo (J. W. Cappelens Förlag) ein Buch erschienen, das in kurzer Zeit eine Reihe von Neuauflagen erlebt hat. Es heißt „Petter Moens Dagbok“. Der Verfasser, ein Norweger, war während der Niederschrift — vom Februar bis September 1944 — ein Mann in den Vierzigerjahren, der wegen illegaler Arbeit gegen die Besatzungsmacht verhaftet und in das berüchtigte Gefängnis Möllergaten 19 gebracht worden war. Er hatte bis Neujahr 1944 das englische Propagandablatt „London Nytt“ geleitet.

Zunächst kam Moen in eine Einzelzelle und hier, mit einem Schlag der Freiheit und jeden Umgangs beraubt und Verhören ausgesetzt, von deren Wucht er sich vorher keine Vorstellung gemächt hatte, erfand er ein System, um sich die täglichen Qualen von der Seele zu schreiben. Mit einem Stift, der sonst unter der Gardine saß, hat er Buchstaben in Klosettpapier eingestochen: im Dämmerlicht oder bei völliger Dunkelheit wie ein Blinder nur auf sein Tastgefühl angewiesen. Diese elenden Blätter wurden dann eingerollt, zu je einem Spitz zusammengedreht und dann in eine Öffnung des Fußbodens geschoben. Keine der ständigen Hausdurchsuchungen hat das Versteck entdeckt. Niemand wäre auch jemals darauf gekommen, wenn Petter Moen nicht bei seinem Tränsport nach Deutschland auf der „Westfalen“ einem Kameraden dieses Geheimnis mitgeteilt hätte. Das Schiff stieß in der Nähe der schwedischen Küste auf eine Mine, ging unter und mit ihm die vielen unglücklichen Häftlinge, auch Petter Moen selbst. Aber unter den • einzigen fünf überlebenden befand sich gerade der Mann, dem er sein Geheimnis anvertraut hatte; Nach dem Krieg meldete er es der Polizei, der Boden der Zelle wurde aufgebrochen, — und da lagen wirklich die vielen Rollen des ärmsten und seltsamsten aller Tagebücher. Sie mußten freilich erst in mühsamer Arbeit präpariert und entziffert werden.

Diese Blätter berichten von der mehr als 200 Tage langen Haft. Da jedes überlesen und Verbessern fast unmöglich war, blieb vom Anfang an das Signum der Unmittelbarkeit und Echtheit erhalten. Die Verhältnisse von Möllergaten 19 erstehen also in ihrer furchtbaren Realität wieder, und mit ihnen die Schwermut, die Sehnsucht, die Angst, das verzweifelte Bangen, das sie auslösen. Aber das vielleicht Erschütterndste ist etwas anderes: das scheinbar vergeblich bleibende Ringen um den christlichen Glauben.

Petter Moen war nicht gläubig. Er teilte die Auffassung vieler Gebildeter, daß Glaube Einbildung oder Wunschdenken sei, und er seiner intellektuellen Moral zu folgen habe. Wenn er freilich nicht weiter konnte, flüchtete er im Geist zu den Eltern, die offenbar einer christlichen Sekte angehörten. „Ich bat zu Mutters und Vaters Gott, aber ohne Erfolg ... Ist Glaube mehr als seelischer Wunschmechanismus?“ (11. Tag,) Oder: „Unruhe und Angst erfüllen meinen Sinn an diesem frühen Sonntagsmorgen... Aus der Tiefe des Gefängnisses und Herzens rufe ich zu Mutters und Vaters Gott. Aber der Gedanke — das heißt: die Erfahrung — quält“ mich: /Jeder Glaube ist subjektiv und willkürlich. Es gibt keinen Gott außerhalb des Menschensinnes. Gibt es ihn da im Menschensinn? Ich weiß es nicht'.“ (31. Tag.)

Einmal geschieht es, daß der sadistische Wärter ihm, der Rauchverbot hat, Rauch in Gesicht bläst. Da überlegt er, wie niedrig ein System sein müsse, daß Unschuldige oder Patrioten außer der gebotenen Pein noch einer privaten Peinigung aussetzt. .Er beschließt doch, nicht einmal in Gedanken Böses mit Bösem zu vergelten. An diesem Tag sehnt er sich verzweifelt nach Gott. .Ich kenne bald keinen anderen Trost für das Leid als das Gebet zu Gott: Hilf mirl Hilf mir! Das mag gegen die .Vernunft' streiten so viel es will.“ (18. Tag.) Er sehnt sich nach der Bibel. „Ich weiß nun“, fährt er fort, „daß Leiden und Angst furchtbare Realitäten sind, und daß ich in der Stunde der Leiden und der Angst ausrufe: Gott hilf mir! Dieser Ruf hilft mir. Er dämpft und entfernt zuweilen die Angst. Hat also Gott geholfen? Ich versuche, Selbstbetrug zu vermeiden, aber ich kann das Erlebnis nicht verneinen. Es kann doch durchaus mißverstanden werden. Ich suche tief in mir. Wenn ich nur eine Bibel hätte! Oder Pascals ,Pensees'. Hier im Nazigefängnis gibt es keine Bibel oder Pascal — nur Unfrieden!“

Was Petter Moen am meisten fürchtet

— er bezichtigt sich dabei der Feigheit

— ist die Mißhandlung. Er hat bei einer der viele Stunden währenden Torturen zwei Namen von Kameraden angegeben, und dies quält ihn unbeschreiblich. Er kommt von der Schreckvorstellung der Methoden nicht los, die er auf .VT“ — Viktoria Terrasse — erlebt hat. Am 19. Tag schreibt er: „Man verliert den Glauben an — nein, ich will nicht darüber schreiben. Martinsen — 58 Jahre alt — sagt: ,Die sollen mich nur niederschlagen — ich sage nichts mehr.' ,Wir werden dich zu Tode peinigen“, antworten sie. Es ist klar, daß es bei meiner Stellung auch zur Krise kommen muß. Alle menschlichen Kräfte sammeln sich um die eine Aufgabe: auszuhalten. In meiner Not bete ich zum Gott meiner Eltern...“

Einmal ist ihm die Sehnsucht, Christus erleben zu dürfen, doch erfüllt worden. Am 32. Tag seiner Haft hat er eine Vision in der Zelle: er sieht das dorngekrönte Haupt schwebend und nahe dem Fenster. Die Erscheinung bewegt ihn zu einem ergreifenden Gedicht in vier Strophen, dessen Diktion über die Echtheit keinen Zweifel läßt. Es heißt: „Das ist ein wirkliches Erlebnis“ und schließt mit einer Anrufung. Petter Moen bittet Christus, ihn Bruder nennen zu dürfen in seiner innersten Not. Es folgen Unterschrift und Adresse: „Gefangener Nr. 5842. Petter Moen. Möllergaten 19. Den 6. März 1944.“

Mit voller Wucht stürzt doch am nächsten Tag die tötende Einzelzelle auf ihn ein. Gewiß versteht er jetzt eher die Idee des Mönchs, der alles dahingibt, um Gott allein zur Verfügung zu sein, und findet sich in das unfreiwillig asketische Leben. Zugleich aber bereitet ihm die Trockenheit neue Qual, womit der Rückschlag gegen das Hochgefühl der am Vortag erlebten Vision einsetzt. „Mein Inneres ist tot. Ich bin leer an Gedanken, Worten, Gefühlen. Nichts geschieht. Mutter, bete für mich!“

Nach den ersten Wochen völliger Isolierung kommt er in eine Gemeinschaftszelle — D 35 —, die er mit zwei anderen Häftlingen, einem Gärtner und einem Seemann, zu teilen hat. Hier wird die Lage eine durchaus andere, und von da an zerfällt auch das Tagebuch in zwei deutlich voneinander geschiedene Teile.

Der Seemann Erichsen — Nummer 5234 — ist ein schwer erträglicher Kamerad. Er wird nicht müde, seine sexuellen Erfahrungen den anderen mitzuteilen, oft in der abstoßenden Art des Besessenen. Moen muß anhören, was er von alten Negerinnen oder jungen Norwegerinnen denkt. Erichsen ist überhaupt ein übler Typ, der sich als Patriot ausgibt, aber diese verraten hat und wegen persönlicher Delikte hier seine Strafe abbüßt. Dazu kommen die täglichen Gewohnheiten der Zelle. Das Nichts von einem Essen — halb verschimmelte Kartoffeln — wird Gegenstand von Argwohn, Zwist, Streit zwischen den dreien.

Einmal ereignet sich innerhalb dieser vier Wände etwas wahrhaft Rührendes. Petter Moen hat mit dem Gardinenstift folgendes in das graue Klosettpapier hineingestochen: „Ich habe gelernt, wie klein und unbedeutend ich bin.“ Tags darauf kommt es zu einer Szene zwischen ihm und Erichren. 5234 beschuldigt ihn, daß er höher hinaus wolle als sie alle. Da führt ihn Petter Moen unter das trübe Zellenfenster und zeigt ihm, was er gerade als letzte Eintragung notiert hatte. „Ich weinte ziemlich unbeherrscht, aber erklärte ihm, daß er hier sehen könne, wie falsch er über mich geurteilt hätte.“

Diese Gemeinschaftszelle macht doch das Leben geregelter und durch den Umgang, auch den schwer erträglichen, leichter. Das Essen wird besser, ja manchmal schmackhaft. Langsam bildet sich eine Art Täglichkeit heraus, die die alte Glaubenssehnsucht vergessen macht. Da kommen die Bedenken wieder, daß alle Religion nur Wunschtraum sei. Nicht Gott sei der Schöpfer, sondern umgekehrt: der Mensch habe Gott erschaffen.

Am 175. Tag finden wir freilich eine Rückkehr zu früheren Stimmungen. „Da kannst du sehen!“ spricht er sich selber an. „Im Leiden und in der Angst — da hast du den Weg zu Gottes Erlösung gefunden. Jetzt aber, wo du glaubst, daß die Gefahr vorüber ist, jetzt machst du das Ganze . zu Menschenwerk, Psychologie und .Zufall' und verneinst den Gott, vor dem du die Knie gebeugt mit flehentlichem Weinen.“

Aber 14 Tage später widerruft Petter Moen alles. „Er (Gott) gehört der magischen Welt an. Noch einmal: Gott ist ein Produkt des menschlichen Wunschdenkens. Das ist die ultima ratio der Diskussionen über Gottes Existenz und Wesen ... Auf jeden Fall gehen viele bange Ahnungen durch meinen Sinn, wenn ich an die Unbarmherzigkeit des Feindes denke und an seine Willkür, wenn die letzte Phase des Krieges kommt. Da möge auch ich ,mein Haus bestellen'. Wenn mich aber auch die Exekutionstruppe erwarten sollte, kann ich mir doch kein ,Credo' abringen. Ich prüfte es in der äußersten Not der Einzelzelle.“

Ist dies das letzte Wort von Petter Moens Ringen um die religiöse Wirklichkeit? Wenn aus diesem ergreifenden Dokument des zweiten Weltkrieges etwas mit voller Klarheit hervorgeht, so ist es die Tragik des Versuches, aus dem bloß subjektiven Erlebnis heraus Glaubenswahrheiten erreichen zu wollen. Der Intellekt als vermeintlich letzte Instanz und die völlige Absperrung von jeder geistlichen Hilfe haben den Versuch gebrochen. Trotzdem gibt uns das Tagebuch kein Recht, diesen wahrhaft heroischen Kampf als abgeschlossen anzusehen. Es enthält nur einen Ausschnitt und zuviel einander Widersprechendes. Und wir wissen nicht, was Petter Moens letzte Gedanken gewesen sind.

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