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Tagebuch einer Seele (iv)

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(Am 28. Oktober 1958 wurde der Patriarch von Venedig zum Papst gewählt; die folgenden Aufzeichnungen stammen aus den Exerzitien des Folgejahres, 29. November bis S. Dezember 1959; Vatikan. Exerzitienleiter war Exzellenz Giuseppe Angrisani, Bischof von Casale.)

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(Am 28. Oktober 1958 wurde der Patriarch von Venedig zum Papst gewählt; die folgenden Aufzeichnungen stammen aus den Exerzitien des Folgejahres, 29. November bis S. Dezember 1959; Vatikan. Exerzitienleiter war Exzellenz Giuseppe Angrisani, Bischof von Casale.)

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Ignatianischer Geist. Grundtendenz der Betrachtungen und Instruktionen: die Heilige Schrift — Evangelium, heiliger Paulus und heiliger Johannes. Einfach, klar, ermutigend. Meine persönliche Aufmerksamkeit wurde durch die Umstände, denen ich mich nicht ganz entziehen konnte, leider etwas abgelenkt. Aber in adiunctis dient doch alles meinen großen Aufgaben. „Deo gratias et in omnibus benedictio et pax.“

Während der Mahlzeiten ließ ich mir von Msgr. Loris ein paar Seiten aus De consideratione des heiligen Bernhard an Papst Viktor vorlesen. Es gibt nichts Geeigneteres und Nützlicheres für einen armen Papst, wie auch ich einer bin, und für alle Päpste aller Zeiten. So manches, was dem Klerus von Rom im 12. Jahrhundert nicht zur Ehre gereichte, ist immer noch vorhanden. Daher „vigilare necesse, corrigere“ (daher tut es not, wachsam zu sein und zu korrigieren) und zu ertragen.

1. Meine erste Pflicht: Mein Testament machen als Vorbereitung auf den vielleicht nahen Tod; der Gedanke an ihn ist mir vertraut. Ich werde alles sorgfältig bestimmen: das Testament eines auch in seinen Schriften armen und einfachen Papstes. Es bleiben mir nur noch einige Details zu schreiben, die im großen und ganzen bereits feststehen. Ich möchte, daß das Beispiel des Papstes eine Mahnung und eine Ermutigung für alle Kardinäle sei. Ohne ein gutes Testament zu sterben^ das ist ein großes Unrecht für jeden Geistlichen und ist ein Grund, sich vor der Ewigkeit zu fürchten.

2. Seit mich, der Herr, so elend und armselig ich bin, zu diesem großen Dienst berufen hat, fühle ich mich nicht einzelnen in diesem Leben mehr zugehörig: weder der Familie noch der Heimat, noch der Nation, weder einer speziellen Studienrichtung noch besonderen Plänen, auch wenn sie gut sind. Heute mehr denn je erkenne ich mich als unwürdigen und geringen „servus Dei et servus servorum Ded“. Die ganze Welt ist meine Familie. Dieses Bewußtsein, daß ich allen gehöre, soll meinen Geist, mein Herz und meine Handlungen durchtönen und durchglühen.

3. Diese Erkenntnis, dieses Gefühl der Universalität soll von nun an mein immerwährendes und ununterbrochenes Gebet beleben: Brevier, heilige Messe, den Psalter (Anm. Freudenreicher, Schmerzhafter und Glorreicher Rosenkranz), die getreuen Besuche bei Jesus im Tabernakel, die vielerlei Arten vertraulicher und vertrauensvoller Vereinigung mit Jesus.

Ein Jahr der Erfahrung gibt mir Licht und Trost, um zu ordnen, zu korrigieren und zart — ohne Ungeduld — alles zu vervollkommnen.

4. Vor allem bin ich dem Herrn dankbar für das Temperament, das er mir gegeben hat und das mich vor Unruhe und lästiger Ängstlichkeit bewahrt. Ich fühle mich in allem dm Gehorsam, und ich stelle fest, wenn ich — in magnis et in minimis (im großen und im kleinen) — im Gehorsam bleibe, so gibt das meiner Kleinheit so viel Kraft und kühne Einfachheit, daß sie, da sie ganz evangelisch ist, allgemeine Achtung verlangen kann und auch erhält. Und sie dient vielen zur Erbauung. „Domine, non sum dignus. Sis Semper, Domine, forti-tudo mea et exultatio cordis mei. Deus meus, misericordia mea.“

5. Immer wieder bin ich erstaunt über die freundliche Aufnahme, die meine arme Person bei allen, die mir nahe kommen, sofort findet. Das „nosce te ipsum“ genügt für meine Seelenruhe und zum Wachsambleiben. Das Geheimnis dieses Erfolges muß hier liegen: im „altiora te ne quaesieris“ (Ekkl. 3, 22) und

darin, daß ich mich mit dem „mitis et humilis corde“ begnüge. In der Sanftmut und in der Demut des Herzens liegt die Anmut des Empfanges, des Redens und des Handelns, die Geduld des Er-tragens, des Mitleidens, des Schweigens und der Ermutigung. Vor allem muß man sich daran gewöhnen, für die Überraschungen Gottes bereit zu sein, der seine Bevorzugten gut behandelt, aber sie auch gern mit Ungemach prüft, das in körperlichen Gebrechen, in der Bitterkeit des Geistes und in den fruchtbaren Widersprüchen bestehen kann, die das Leben eines Dieners des Herrn und des Dieners der Diener des Herrn in ein wahres Martyrium verwandeln und es verzehren. Ich denke immer an Pius IX. heiligen und glorreichen Angedenkens. Ich möchte seinen Opfern nacheifern und würdig sein, seine Heiligsprechung zu feiern.

(Aus den Aufzeichnungen während der „Exerzitien zur Vorbereitung auf die Vollendung des SO. Lebensjahres, 10. bis 15. August des Jahres 1961, Castel Gandolfo.)

Sonntag, 13. August 1961. ... immer, aber vor allem in dieser Zeit, sollte ein Bischof heilendes öl in die Wunden der Menschheit gießen. Deshalb muß er sich vor jedem vorschnellen Urteil hüten, vor jedem verletzenden Wort zu wem immer, vor jeder Schmeichelei, die der Angst entstammt, vor jedem Einverständnis mit dem Bösen, das die Hoffnung, jemandem zu nützen, ihm eingibt. Seine Haltung soll ernst, diskret und fest sein, sein Gespräch mit jedermann sanft und liebenswürdig; gleichzeitig soll er voll Autorität, doch ohne Heftigkeit bewirken können, daß das Gute vom Bösen geschieden werde...

Montag, 14. August. Sechs Regeln der Vollkommenheit.

Um mein Lebensziel zu erreichen, muß ich folgendes tun:

1. Einzig nur wünschen, „Justus et sanctus“ — gerecht und heilig — zu sein und dadurch Gott zu gefallen.

2. Alles, Gedanken wie Handlungen, dem Wachstum, dem Dienst

i und der Ehre der heiligen Kirche i widmen.

i 3. Da ich mich von Gott berufen

- weiß — und gerade deswegen —,

- vollkommene Ruhe bewahren bei i allem, was kommen mag, nicht nur, 1 was mich, sondern auch was die

Kirche betrifft, aber gleichzeitig immer für die Kirche arbeiten und auch mit Christus für sie leiden.

4. Mich immer der göttlichen Vorsehung überlassen.

5. Mich immer in meinem Nichts erkennen.

6. Stets klar und in vollkommener Ordnung über meinen Tag disponieren.

Mein Leben als Priester oder — wie man zu meiner Ehre und Verwirrung zu sagen pflegt — als Fürst aller Priester Christi in Seinem Namen und in Seiner Kraft steht vor den Augen meines göttlichen Meisters, des großen Gesetzgebers. Er sieht mich an, blutend, zerfleischt, am Kreuz hängend. Er sieht mich an, die Brust durchbohrt, die Hände und Füße durchbohrt, und Er fordert mich auf, immer auf Ihn zu schauen. Die Gerechtigkeit hat Ihn geradeweg zur Liebe geführt, und die Liebe hat Ihn geopfert. Das muß auch mein Los sein: „Non est discipulus super ma-gistrum“ — der Jünger steht nicht über seinem Meister (Matth. 10, 24).

O Jesus, Du leidest und stirbst für mich, ich stehe vor Dir; alt, wie ich jetzt bin, nähere ich mich dem Ende meines Dienstes und meines Lebens. Halte mich nahe an Deinem Herzen. Laß mein Herz mit Deinem schlagen. Ich liebe es, mich an Dich gebunden zu fühlen, unauflöslich, mit einer goldenen Kette, die aus schönen Ringen besteht:

Der erste: die Gerechtigkeit, die mich in allem Gott finden läßt.

Der zweite: die Vorsehung Und die Güte, die meine Schritte lenken.

Der dritte: die unausschöpfbare und geduldige Nächstenliebe.

Der vierte: das Opfer, das mich begleiten soll und das ich zu jeder Stunde verkosten will und muß.

Der fünfte: die Glorie, die Jesus mir in diesem und im ewigen Leben sichert.

O gekreuzigter Jesus, „amor meus et misericordia mea nunc et in saecula“ — Du meine Liebe und Barmherzigkeit, jetzt und in Ewigkeit. „Pater, si vis transfer calicem istum a me: veruntamen non mea voluntas sed tua fiat“ — Vater, wenn es möglich ist, laß diesen Kelch an mir vorübergehen; aber nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine (Luk. 22, 42).

15. August 1961. Fest der Himmelfahrt Maria. ... mein unmittelbarer Vorgänger,

Papst Pius XII., verkündete am 1. November 1950 das Dogma. Als Nuntius in Frankreich war ich unter den Glücklichen, die dieser Zeremonie auf dem Petersplatz beiwohnten. Meinerseits gab es keinerlei Ängstlichkeit. Auch wenn mir in all den Jahren im Orient, in den Kirchen des griechischen wie des slawischen Ritus, nicht immer nur Bilder der „dormitio beatae Mariae“ begegnet wären, hätte ich diesem Lehrsatz immer zugestimmt...

In diesen Tagen läßt die politische Weltlage uns für den Frieden fürchten. Und ich habe es für gut befunden, meine Messe vom Fest der Himmelfahrt hier in der Pfarrkirche von Castello zu feiern und alle Pfarrkinder, die ständig oder vorübergehend hier sind, dazu einzuladen. Es wurde eine imposante und ansehnliche Versammlung. Auch Kardinal Agagianian mit Msgr. Sigismondi war hier sowie ein beachtlicher Teil des Kollegiums der Propaganda fide. Auch die Ansprache post missam kam mir aus bewegtem und glühendem Herzen. Gestern ließ ich über das Radio der ganzen Welt mitteilen, eine Einladung an die Katholiken aller Nationen — Bischöfe, Priester und Laien —, sich innig mit dem Papst zu vereinen, um die glorreiche Jungfrau gemeinsam als Königin und Mittlerin des Friedens auf der ganzen Erde anzurufen.

Diese kurze und gut gelungene Zeremonie diente mir als Einleitung zum letzten Tag meiner Exerzitien.

Welche Gedanken bei diesem Abschluß in mir vorherrschen, das drückt ein bekanntes, aber sehr kostbares Wort aus: „Ad Jesum per Mariam“ — durch Maria zu Jesus.

Mein Leben, das sich dem Ende zuneigt, könnte tatsächlich nicht besser beschlossen sein als in der vollständigen Konzentration auf Jesus, den Sohn Mariae, den ihre Arme mir als süßen Trost reichen.

Deshalb werde ich mit besonderer Sorgfalt und inniger, heiterer Freude auf die drei wichtigsten und strahlenden Worte achten, die stets mein ganzes Vollkommenheitsstreben umfassen müssen: „pietas. mansuetudo, Caritas“ — Frömmigkeit, Sanftmut, Liebe.

Ich werde mich weiterhin um Vollkommenheit in den Frömmigkeitsübungen bemühen: heilige Messe, Brevier, Rosenkränze sowie große und dauernde Vertrautheit mit Jesus, den ich im Bild als Kind und als Gekreuzigten betrachte, im Sakrament anbete. Das Brevier erhebt meinen Geist, die heilige Messe taucht ihn in den Namen, in das Herz, in das Blut Christi. O welche Zärtlichkeit, welche ruhige Freude ist meine morgendliche Messe!

Der Rosenkranz — Anfang 1958 habe ich mich verpflichtet, ihn täglich ganz und andächtig zu beten, und er wurde mir zu einer Übung andauernder Betrachtung und täglicher Kontemplation, zu einer Übung, die meinen Geist offenhält für das weite Feld meines Amtes und Dienstes als oberster Hirte der Kirche und universaler Vater der Seelen.

Je mehr diese Tage der Einkehr zu Ende gehen, desto klarer erkenne ich die lebendige Substanz jener Aufgabe, die Jesus meinem Leben anvertraut hat, als er sie zuließ oder mir schickte.

„Vicarius Christi?“ Oh, ich bin dieser Bezeichnung nicht würdig, ich, der arme Sohn des Battista und der Marianna Roncalli, die gewiß gute Christen waren, aber doch so bescheidene und einfache Leute. „Vicarius Christi“: also liegt hier meine Aufgabe. „Sacerdos et vic-tima“ — Priester und Opfer: Das Priestertum beglückt mich, aber das Opfer, das dieses Priestertum voraussetzt, läßt mich erzittern.

GesiV benedetto, Gott und Mensch. Ich bekräftige aufs neue, daß ich Dir geweiht bin, für das Leben, für den Tod, für die Ewigkeit.

Wenn ich bedenke, was so allem im Leben und um mich herum geschieht, dann fällt es mir leicht, oft auf Kaivaria innezuhalten und dort mit dem sterbenden Jesus und Seiner Mutter zu sprechen; und von Kaivaria steige ich hinunter in die Nähe des heiligen Tabernakels, der

Wohnung Jesu im Sakrament. Das Brevier bete ich am liebsten an meinem gewöhnlichen Arbeitstisch, aber den Rosenkranz und die Betrachtung der Geheimnisse mit den Intentionen, die ich schon seit längerer Zeit gern mit jedem Gesetz verbinde, bete ich lieber kniend, nahe dem heiligen Schleier der Eucharistie.

In Erinnerung an den Eifer und die glücklichen Eingebungen dieser Tage möchte ich die wichtigsten Zeitpunkte meiner täglichen Gespräche mit Jesus festhalten, und zwar:

1. Am Morgen, nach dem Breviergebet bis zur Sext, die heilige Messe, nach der Messe: Sext bis Non und Freudenreicher Rosenkranz.

2. Nach dem Mittagessen: Ich werde niemals den kurzen Besuch beim allerheiligsten Sakrament — unmittelbar nach Verlassen des Speisezimmers — auslassen und ebensowenig die kurze Siesta.

3. In den Nachmittagsstunden und nach der kurzen Siesta — niemals im Bett, sondern auf einem Liegestuhl — Vesper und Komplet und Schmerzhafter Rosenkranz. Diese Gebetsart kann gut an die Stelle eines Besuches beim Sanktissimum treten.

4. Am Abend, 19.30 Uhr, Glorreicher Rosenkranz, gemeinsam mit der päpstlichen Familie: Sekretär, Schwestern, Hausangestellte. Wenn es geht, ein letzter Gruß beim Allerheiligsten als Empfehlung für djp^nä^htiiehen Stunde^ .,„„,,

Über die Übung der Sanftmut füge ich kein Wort hinzu: Ich danke der Güte des Herrn, der mir bei der Verwirklichung des „mitis et humilis corde“ (sanftmütigen und demütigen Herzens) „ore et opere“ (in Wort und Werk) hilft.

Idem, was die Liebe betrifft. Es ist der Heilige Geist, „qui habitat, loquitur et operatur in nobis, et effunditur versus clerum et plebem sanetam in multa patientia, et boni-tate non Acta“ — der in uns wohnt, spricht und wirkt und sich in großer Geduld und ungeheuchelter Güte dem Klerus und dem heiligen Volk zeigt.

„Simon, Sohn des Jonas, liebst du mich mehr als diese?“

Resume meiner Einkehr:

Mein lieber Msgr. Cavagna weist auf den wunderbaren Fischfang und den darauffolgenden Dialog Jesus mit Petrus hin, welcher mit dem Auftrag schließt: „Pasee agnos, pasce oves“ — Weide Meine Lämmer, weide Meine Schafe (Joh. 21, 15 und 17).

In diesen göttlichen Worten liegt große Bedeutung: Nach der dreifachen Liebesbeteuerung des Petrus, die Jesus mit sanfter Beharrlichkeit verlangt, wird der Papst zum Hirten der Welt eingesetzt. Also steht die Liebe in der Mitte: Jesus verlangt sie von Petrus, Petrus beteuert sie ihm...

Mein Leben soll ganz Liebe zu Jesus sein und zugleich ein Verströmen in Güte und Opfer für die einzelnen Seelen und für die ganze Welt

Mein Testament

Castel Gandolfo, 12. September 1961 Unter dem teuren und vertrauten Schutz Marias, meiner himmlischen

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