Die Aufzeichnungen des österreichischen Schriftsteller E. A. Rheinhardt, geschrieben in französischen Gefängnissen 1943/44.
Für ein "vages Später" hat Emil Alphons Rheinhardt das Leben im Gefängnis beschrieben und die Zellengefährten "abkonterfeit". So heißt es gleich am Beginn des Tagebuches, geschrieben im November 1943. Aus diesem Später wäre fast ein Nie geworden, denn dass diese Notizen ihren Schreiber, der am 25. Februar 1945 im Konzentrationslager Dachau an Flecktyphus starb, überlebt haben, ist schon eine Besonderheit. Die Voraussetzungen, dass es ein Später überhaupt geben konnte, sind nicht besonders gut im Fall Rheinhardt. Wer im Widerstand war, hatte nicht unbedingt gute Karten, wenn überdies die politische Position nicht eindeutig zuzuordnen war und zwischen Bürgertum und Kommunismus oszillierte.
Die Notizen waren für Rheinhardt ein kleines Stück Freiheit und Selbstvergewisserung, die von seiner treuen Sekretärin Baronin Erica Behr gerettet und transkribiert worden sind. 60 Jahre nach ihrer Abfassung sind diese Manuskripte erschienen, mit einer Selbstverständlichkeit, als müsste man seinen Verfasser einfach kennen. Ein Nachwort liefert eine biografische Skizze. Rheinhardt, geboren 1889, schrieb seinen ersten Gedichtband während des Ersten Weltkrieges, nach dessen Ende er zum Proponenten des Expressionismus in Wien wird. Einzig sein Roman über Eleonore Duse wird ein Erfolg, sonst scheint er ein Meister des Unvollendeten zu sein, ein Literat, der seine Werke vielleicht lieber und besser erzählte. Als Übersetzer von Balzac ist er mit Erfolg tätig ohne selbst Französisch perfekt zu können. Seit 1924 lebt er zuerst in Livorno und später in Le Lavandou in Frankreich. Als die Nazis sich Europa einverleiben, schließt er sich dem Widerstand an und der anfängliche Antikommunist beginnt mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten. Über seine Widerstandstätigkeit liegen unterschiedliche Berichte vor: sie reichen vom Versuch, italienische Soldaten zur Desertation zu bewegen, bis zum Ausspionieren von Befestigungsanlagen.
In diesem Buch soll jedoch der Text sprechen und die nachfolgenden Generationen dürfen bloß einige zusätzliche Erklärungen abgeben. "Seit ein paar Tagen habe ich Schreibzeug und benutze es mit dem Eifer, mit dem ich einstens als Kind eiligst die Weihnachtsgeschenke in Gebrauch genommen habe." Dieses Bestreben, den Leser alleine mit den Notizen zu lassen, ist eine zweite Besonderheit, ein verlegerisches Wagnis. Ein Bürger mit guten Umgangsformen, der Wert auf Stil legt, sitzt im Gefängnis und leidet an der Eintönigkeit, am Mangel an Gesprächsstoff, an der Aussichtslosigkeit. Er erinnert sich und bekämpft die Lethargie mit täglichen Waschungen. "An Freiheit denke ich nur im Halbwachen in Tagträumen, in denen man sich das Leben draußen wie Märchen erzählt." Das Gefängnis ist aber auch der Katalysator für Selbsterkenntnis. Emil Alphons Rheinhardt war kein Sieger, kein glorioser Held, er bewegte sich im Umfeld der großen Literaten, ohne Selbst den Durchbruch zu schaffen, und doch hatte er den Anstand eines Aufrichtigen, der selbst in den mühsam abgerungen Zeilen des ewig wiederkehrenden Tagesablaufes in Stil und Haltung jene kultivierte Welt überleben ließ, in der er sich in besseren Tagen zu bewegen verstand.
E. A. Rheinhardt
Tagebuch aus den Jahren 1943/44. Geschrieben in den Gefängnissen der Gestapo in Menton, Nizza und
Les Baumettes (Marseille)
Hg. von Martin Krist
Turia & Kant, Wien2003
165 Seiten, kart., e 18,50