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Tante Helene un J Aaama

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Tante Helene gab es so lange wie uns vier Sie hing nicht nur in gelber Seide und mi schwarzem Kraushaar in Papas Arbeits zimmer über den Orden, sie gehörte zun Haushalt. Etwa in Zusammenhang mit den Küchenzettel oder mit dem Gästehaus. „Wa: gibt es heute mittag?“ pflegte der Papa zurr Beispiel zu fragen, schon an der schwerer Eichentür, ehe er in unvergeßlichem Stechschritt den großen Teppich nahm, der zwischen Eingang und Wintergarten lag, wo urr die Zeit Mama meistens strickte. War danr der sanfte Kuß auf die Wange absolviert kam ihre langsame, im Ton des Maschenzählens gehaltene Antwort: „Ehrlich, Lieber ich weiß es nicht, die Leopoldin…, läuten wir ihr, sie kann es sagen.“ Und darauf meistens der Papa: „Findest du nicht, Liebe, daß du den Küchenzettel kennen solltest?“ Und dann: „Helene hätte es jedenfalls so gehalten.“ Da der Papa im Lauf unserer Schulzeit, rund gerechnet, 3600mal um Punkt ein Uhr das Haus betrat, W’aren wir, seit wir denken konnten, an dieses Frage-und-Antwort-Spiel gewöhnt. Interessanter war Tante Helene schon im Zusammenhang mit den Besuchen, den „Gäste“ genannten Besuchen, die ohne Rücksicht auf uns vier in das Familienleben einbezogen wurden, ob Onkel oder Geschäftsfreund, Oberingenieur aus exotischen Ländern oder Verhandlungspartner. Die Mama mochte sie nicht. Sie redete dann dem Papa gut zu, es bei Herrengesellschaften bewenden zu lassen, sie bat und flehte, sie wenigstens nach dem Abendessen von ihrer Anwesenheit zu dispensieren, sie bewies an allen Schlachtendaten aller verkündeten Kriegsschauplätze 1914 18, daß sie bei allen Kameradschaftstreffen aufmerksam gewesen war, der Erfolg blieb immer: „Helene würde selbstverständlich ihre Hausfrauenpflichten ernster nehmen.“

Tante Helene nahm Fleisch und Blut aber erst an, als in den letzten Jahren vor 1938 kulinarische Wünsche nach Schlagobers und Mehlspeisen mit dem Hinweis erledigt wurden, daß „die draußen“ sowas auch nicht hätten, auch nicht Tante Helene. Seit damals haßten wir sie. Wir haßten sie gründlich und blieben dabei, obwohl die Mama uns immer wiederholte: „Sie hat den Papa im Krieg gepflegt.“ „Sie ist ganz allein.“ „Sie ist eine ältere Dame, vor der man Respekt haben muß.“ „Seid zufrieden, daß sie nicht eure Mutter geworden ist.“

Wieso sie unsere Mutter hätte werden sollen, blieb uns eigentlich immer unklar, obwohl wir kurz vor ihrem Besuch auf dem Dachboden bei Gewitter — wir waren bei Gewitter immer auf dem Dachboden, um den Regen besser zu hören! — die Briefe fanden. So viele Briefe, daß man es sich nicht vorstellen konnte. Briefe an den Papa von der Mama und Briefe von der Tante Helene, mit „Deine Helene“ oder „Deine Dich liebende Helene“ unterzeichnet oder „Deine brave Helene“. Damit mußte Mamas Satz wohl Zusammenhängen, daß sie leicht auch unsere Mutter hätte werden können. .

Als ihr Besuch feststand, war aus Tante Helene „die arme Tante Helene“ geworden, was auch mit „draußen“ zusammenhing und mit dem dort fehlenden Schlagobers. Daß wir sie noch glühender haßten, das aber hing mit den Vorbereitungen des Besuches zusammen. Keine strickende Mama, keine Segelschiffe bastelnde Mama, keine lustige Mama, sondern eine, die Kochbücher studierte, und dazu noch französische, eine, die auf einmal einen Lockenwuschelkopf hatte, lackierte Nägel, neue Kleider. Dazu wir vier, die nun wochentags weiße Socken anhaben und die weißen Matrosenkleider und die Spielschränke aufräumen mußten. Sogar die Leopoldin stand auf unserer Seite: „Lieber zwanzig Leut’ als das Getu’ wegen der Lehrerin, der draußigen!“ Ganz zu schweigen von der Sophie und dem Ferdinand, die ihr sekundierten: „Nicht einmal bei der Gnädigen wird so ein Wirbel gemacht!“ Und das war schließlich die böhmische Großmama, bei der man nicht einmal in die Schule mußte, wenn sie kam.

Tante Helene trug weder gelbe Seide noch hatte sie schwarzes Kraushaar, als das Auto sie vom Bahnhof brachte. Sie war ganz und gar langweilig, grau in grau, mit einem schmalen Mund und sehr, sehr alt. Auch Mütter sind ja schließlich alt und Väter noch älter, aber Tante Helene war älter als beide. Da sie Lehrerin war, wußte sie sehr viel über unseren Stundenplan, mehr als wir. Wir blieben jedenfalls nicht im Wintergarten sitzen. Trotz petit fours und Tee und der komischen Sophie in weißen Handschuhen.

Tante Helene war etwas anderes als ein Besuch. Sie fuhr nach drei Tagen noch nicht weg, sie fuhr nach zwei Wochen noch nicht weg. Sie besichtigte alle Museen, sie ging in alle neuen Aufführungen im Burgtheater und in der Oper, der Papa fuhr mit ihr in die Wachau und in die Lobau und nach Preßburg tfnd auf den Semmering, die Mama kaufte mit ihr ein, die Mama zeigte ihr die Stadt, die Mama strickte nicht mehr, sondern redete stundenlang mit ihr und abends kaum mehr mit uns. Sie erklärte gar nichts. Sie roch nach Paris, man durfte ihr die Frisur nicht zerstören. Man bekam Lippenstiftflecken. Der Papa, das war angenehm, kümmerte sich gar nicht um die Schule.

In der dritten Woche kam dann die Aende- rung. Tante Helene fragte beim Mokka: „Wie hältst du es nur aus, Liebe, den großen Haushalt, den komplizierten Küchenzettel für hier und das Gästehaus der Fabrik, die vielen Veranstaltungen, die Kinder, die Caritas, die Hunde, der Garten, dazu deine Gepflegtheit.“ Sie sagte es mit ganz schmalen Lippen und hielt dabei den kleinen Finger gespreizt. Der Papa bekam einen roten Kopf und sagte: „Was sitzt ihr da herum, geht zu euren Aufgaben.“ Wir gingen.

Am zweiten Tag der dritten Woche fragte Tante Helene beim Mokka: „Haben die Kinder eigentlich Respekt vor einer so jung aussehenden Mutter? Wie vereinigen sie ihre Klostererziehung mit deinem mondänen Lebensstil, Liebe?“ Der Papa drückte seine Zigarette aus, obwohl sie erst angezündet worden war, und sagte: „Ihr könnt spielen gehen, Kinder!“

Am dritten Tag der dritten Woche fragte Tante Helene beim Mokka: „Lieber, wie anders ist doch dein Leben verlaufen in diesem Milieu, du bist einfach weltmännisch geworden. Ich bewundere deine Frau, wie sie es schafft.“ Der Papa verschüttete Kaffee auf seine Hose und wir gingen von selbst.

In der Nacht, sicher schon nach 21 .Uhr, kamen die Brüder in das Mädelzimmer: „Wir haben genau zugehört“ — sie waren sehr aufgeregt —, „tu alles, Liebe“, hat der Papa gesagt, „tu alles, daß sie wegfährt.“ — „Aber du wolltest sie doch hier haben“, antwortete die Mama. „Ich finde es nett. Warum soll sie nicht dableiben, bis ihr Urlaub vorbei ist.“ — „Aber“ — wieder der Papa — „findest du nicht, daß es eigentlich genug ist? Schließlich hat sie mich seinerzeit doch nur zwei Wochen im Lazarett gepflegt? Und das ist •zwanzig Jahre her.“

Tante Helene blieb noch eine Woche. Sie fuhr an einem Sonntag morgen. Papa und Mama und wir vier hatten sie zur Bahn gebracht. Eine Stunde später saß die Mama im Wintergarten und strickte an einem Jäckchen. Sie trug ihren alten Lodenrock und einen grünen Pullover, der aus einem alten Pullover von Papa war. „Ihr könnt eure Lederhosen anziehen“, sagte sie zu den Zwillingen. „Ja, auch wenn Sonntag ist.“

Der Papa trat dazu, er kam aus der Küche. Der Ferdinand hinter ihm. „Nudelsuppe, Reisfleisch, grüner Salat, Apfelstrudel“, hat die Leopoldin mir verkündet.“ Falls du’s nicht weißt!“ Er zwinkerte die Mama an. Dann sagte er: „Ferdinand, Sie helfen mir jetzt, bitte, das Bild über den Orden herunterzunehmen. Es kommt ins Gästehaus." Und dann, zur Mama und zu uns gewendet: „Ich hab da ein altes Aquarell gefunden, Ar- gonner Wald, ich möchte das doch gern über den Orden hängen haben.“

Die Mama zählte die Maschen und sagte dazwischen: „Wie du willst, Lieber.“

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