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TAUSEND UND EINE KIRCHE

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Bin-bir-kilise — „Tausend und eine Kirche” — nennt der türkische Volksmund die Gegend um Geröme im Herzen Anatoliens. Es ist ein seltsames Tal, ein ewiger Fremdling unter den Tälern der Erde. Inmitten dieser geisterhaften Mondlandschaft, die auszudeuten unsere Phantasie niemals müde wird, fühlt sich selbst der moderne, sachliche Mensch in eine mystische Traumwelt versetzt. Haben wir Geröme erreicht, so liegt eine Reise durch Jahrtausende hinter uns. Wir haben Istanbul, die prächtige Pforte vom Okzident zum Orient, durchschritten und sind durch Jonien auf den Spuren der Apostel und der Kreuzfahrer gewandert. Vielfältig wie die Denkmäler der sich im Wechsel der Geschichte überlagernden Kulturkreise ist das Antlitz der Landschaft. Unwandelbar aber ist die Stimme Ana toliens: der Ruf des Muezzins, das meilenweit zu hörende Knarren der Scheibenräder an der Araba, dem zweirädrigen hethiti- schen Karren, das Klappern der Störche und das Klingen der Glöckchen, wenn Kamelkarawanen zeitlos vorbeiziehen.

Dort, wo der Halys in weitem Bogen zum Erzias-Dagh, dem Mons Argäus der Antike, ausschwingt, tönen weinroter Porphyr, dunkelgrüner Serpentin und grauschwarze Lavabrocken fahle Hänge, über die im Glanze ewigen Schnees der zackige, längst erkaltete Krater des Erzias wacht. Vor vielen Jahrzehntausenden warf der Erzias-Dagh Asche und zu feinem Staub zerriebenes Gestein aus. Frost und Hitze, Regengüsse, Schneestürme und Tauwässer preßten die Schichten zu weichem Tuff zusammen und rissen ihn wieder auseinander. Lavaströme ergossen sich als schützende, härtere Deckschicht darüber. So lösen sich aus den langgezogenen, weißlichen Tafelbergen Steinbänke und Galerien, teilen sich zu Nadeln und Türmen. Menschen- und tierähnliche Gestalten treten hervor, spitzhalsig mit dunklen Lavahüten. Scharen steinerner Pilger ziehen dahin, riesengroß, eingehüllt in weite Mäntel. Ihr künftiges Geschick ist an vielen ihrer Genossen schon abgezeichnet: vom immer spitzer abgewitterten Hals stürzt der schützende Hut, und vom Winde verweht wird die zusammengesunkene Gestalt in den breiten Sandstrom stürzen, der das Tal durchzieht. An seinem Ufer stehen mächtige Klötze, Einsiedler, deren bleiche Gesichter mit leeren Augenhöhlen und grinsendem Mund auf die weißrosa Blütenpracht der Obstbäume und das satte Grün der Weinstöcke blicken, die auf schmalen Pfaden zwischen den Türmen honigsüße Früchte tragen.

Erosionslandschaften gibt es auch anderswo, hier aber haben Menschenhände das Werk der Natur fortgeführt und vollendet. Eine geheimnisvolle Mönchsstadt entstand und hat zu allen Zeiten, von frühen Chronisten an bis zu dem französischen Gelehrten Pater Jerphanion, die Historiker beschäftigt. Der heilige Paulus gründete im nahen Cäsarea eine der ersten Christengemeinden Anatoliens. Die weitere geschichtliche Entwicklung, der Ansturm seldsChukischer und osmanischer Heere und damit verbundene Christenverfolgungen, legen den Gedanken an ein Katakombenchristentum nahe. Warum aber vertauschten die Christen auch in gesicherten Zeiten nicht ihr Troglodyten- dasein gegen ein bequemeres Leben im reichen Cäsarea? Darauf weisen schon Leo Diakonus im 11. Jahrhundert und Theodor, Skutariotes in seiner „Synopsis chronica” aus dem 13. Jahrhundert hin. Zweifellos bieten die Höhlen Schutz vor der Glut des anatolischen Sommers und der schneidenden Winterkälte, über die sich sogar der Asket Basilius der Große bitter beklagte. Der vulkanische Boden ist überaus fruchtbar. Seit ur- denklichen Zeiten gruben Menschen, vielleicht schon Hethiter, ihre Wohnungen in den weichen Tuff. Unirdische, bizarre Landschaften ziehen immer Gottsucher und Asketen an, so der Montserrat in Spanien, die thessalischen Meteorafelsen und der Berg Athos. Auch in Hagios Prokopios (Ürgüp) und Korama (Geröme) drängten sich die frommen Klausner aus Cäsarea, Nyssa, Nazianz und wie die vielen Gemeinden des christlichen Kappadokien hießen, in eschatologischer Erwartung zusammen, kasteiten ihren Leib, rangen mit den Dämonen der Versuchung und lebten ihren Visionen.

Und so entstanden neben- und übereinander bis in die höchsten Spitzen und hinunter in die tiefen Schluchten Gotteshäuser und Mönchszellen, oft durch ein kompliziertes System von Tunnels, Steigen und Leitern verbunden. Treten wir aus dem gleißenden Sonnenlicht in das kühle Dämmerdunkel der Klöster, so bewegen die Verse des Hymnensängers Gregor von Nazianz unser Herz:

„Die selbstgewählte Wohnung von Felsen soll dich bergen Und schlichtes Werk der Stunde, wenn nottut, sich zu mühen. Eik Kleid nach rechtem Schnitte, vom Haare der Kamele,

Zur Streu nimm, was sich bietet: Kräuter und Zweige dienen, Dem purpurnen Gelage, das gern der Gäste wartet.

Und dort wird auf dent Tisch dir süßduftend aufgetragen, Was uns die liebe Erde an schlichten Gaben bietet.”

Niemals wurde der vorgeschriebene Typus byzantinischer Kirchen verlassen. Mit Liebe und Sorgfalt sind in den Refektorien Tische mit Vorschneidemulden, Abtsitz und Bänke aus dem weichen Stein geschnitten. Koch- und Schlafnischen, Mostgruben und Weinkeller liegen neben den schmalen Gruben, in denen man die Heimgegangenen zur letzten Ruhe bettete — Leben und Tod wohnten eng beieinander im Felsgehäuse! Statisch völlig überflüssige Pfeiler stützen die Hauptkuppel über dem Zentralraum. Hier herrscht das ernste, leidenschaftslose Antlitz des Christos Pantokrator über die Hierarchie des Himmels. Engel, Propheten, Heilige und verzückte Märtyrer ziehen stilisiert und statuenhaft in langen Reihen dahin, überschlanke steife Apostelgestalten drängen sich in den Ecken. Immer dem Kanon byzantinischer Ikonographie und dem Wortlaut der Evangelien und bestimmter Apokryphen folgend, reihten Künstler, aber auch schwere, ungelenke Hände Szenen aus der Christologie und Mariologie aneinander. Eine unendliche Biblia pauperum bedeckt Vorhalle, Wände Und Kuppeln der 365 Kirchen in Geröme. Jedes freie Plätzchen zwischen dem heiligen Geschehen ist mit Symbolen und Ornamenten ausgefüllt.

Die oft nur provinzielle, bäuerliche Kunst ergreift durch ihre Leidenschaft und Inbrunst. Für die Geschichte byzantinischer Kunst sind die vollständig erhaltenen Freskenzyklen von großer Bedeutung. Der älteste datierte Zyklus in der Tofcanle Kilise stammt aus der Regierungszeit des Konstantinos Porphyrogenetos (913 bis 950), die jüngste Freske in Orta Köj vom Ende des 13. Jahrhunderts. Manche Kunsthistoriker datieren einzelne Fresken in die Zeit vor dem 8. Jahrhundert, also vor dem Bildersturm. In der größten der Kirchen des Tales, der „Tokale Kilise”, finden wir noch die fast vollständige liturgįfghfi Zielrichtung, im düsteren Zwielicht der „Keramlik Kilise”, der „diinfclen Kirche”, ahnen wir die Harten Bußen und die ittetnde; Angst, wenn draußen waffenklirrend die wilden Horden vorbeizogen. Riesige Steine, ähnlich unseren Mühlsteinen, versperrten in Zeiten der Gefahr die Eingänge und verwandelten die friedlichen Stätten zu Klosterburgen.

Unter Führung der drei kappadokischen Kirchenväter, Basilius des Großen, seines Freundes Gregor von Nazianz und seines Bruders Gregor von Nyssa, erreichten Ürgüp und Geröme ihre erste Blütezeit. Basilius, Metropolit von Cäsarea (3 30 bis 379), kämpfte unermüdlich für den wahren Glauben und fand vor den Verfolgungen des den Arianern nahestehenden Kaisers Valens in den Höhlenklöstern sicheren Schutz. Als Enkel von Märtyrern verachtete er das Leben und nahm mutig die Mühsal weiter Reisen auf sich, um in Syrien und Ägypten die Mönchs regel des heiligen Pachomius zu studieren, denn er erkannte die Gefahr ungezügelter mystischer Aspirationen. Die Ordensregel, die Basilius der Ostkirche schenkte, betont weit mehr das Anachoretentum und die Weltabgeschiedenheit als die Regel des abendländischen Mönchsvaters Benedikt. Vor den Toren Cäsareas erbaute Basilius die ganz dem Dienst christlicher Nächstenliebe geweihte Stadt Basilea. Auf ihren Fundamenten entstand die heutige Stadt Kayseri.

Europa erbebte unter den Erschütterungen der Völkerwanderung — Kleinasien lag im Windschatten der Geschichte. Doch schon sammelten sich im Osten die unermüdlichen Reiter ĄĮĮabįi,. \y,ię, pjp., S fliwind . Jlt n sie die hellenistische Kultur, die über ein Jahrtausend den.Vorderen Orient ‘beherrschte, hinwegfegen. Bysapz. erjclöpff .und Įkrąftbž, konnte dem Ansturm nicht standhalten. Syrien und Ägypten gingen verloren, die Troglodytenwelt war zur christlichen Bastion geworden. Noch einmal, im „zweiten goldenen Zeitalter von Byzanz”, zwischen 867 und 1081, erlebten die Höhlenkirchen eine neue Glanzzeit. Kraftvolle makedonische Herrscher richteten das Reich von Neuem auf. Siegreiche Feldherren, Fürsten und Bischöfe stifteten Kirchen und Klöster, die Hymnen der Dankprozessionen erfüllten das stille Tal.

Um die Mitte des 11. Jahrhunderts beginnt die mehr als 600 Jahre dauernde Expansion der türkischen Stämme nach dem Westen. Im Jahre 1071 besiegen die Seldschuken, ein Stamm aus den Steppen am Aralsee, bei Manzikert den byzantinischen Herrscher Romanos und stehen schon 1075 an der ägäischen

Küste. Sie gründen das Sultanat von Rum mit der Hauptstadt Konya. Der Glanz Konyas unter Sultan Kaikubad II., der sich mit Künstlern und Gelehrten umgab, findet seine Parallele am Hof von Palermo. Die weltoffene Toleranz der seldschukischen Sultane erlaubte dem Christentum Anatoliens ein weiteres Bestehen. Zur Zeit der letzten datierten Freske der Felsenkirchen, am Ende des 13. Jahrhunderts, lag das Sultanat von Rum im Sterben. Denn ehe es sich noch von den wuchtigen Schlägen der Mongolen erholen konnte, drängte ein anderer türkischer Stamm unter seinem Anführer Osman nach.

Der märchenhafte Aufstieg der Osmanen hatte den Niedergang des christlichen Kappadokien zur Folge. Anatolien sank zu einer unbedeutenden Randprovinz herab, Urgüp verlor seinen Bischof, doch hielten sich noch lange einige christliche Gemeinden. Erst die Umsiedlungsaktionen 1924 zwangen die letzten Christen, ihre Heimat zu verlassen. Als sie die Reliquien des heiligen Mamas, eine der ersten kappadokischen Märtyrer, mit sich nehmen wollten, verboten es die Mohammedaner, denn auch sie verehren Mamas-Baba als Wundertäter. So ruhen die Gebeine eines christlichen Heiligen in einer osmanischen Türbee. Geister hafte Verlassenheit umwittert das menschenleere Geröme. Ein freundlicher Anatolier bewacht die Zeugen einer großen christlichen Vergangenheit, schließt gern den spärlich auftauchenden Fremden die Kirchen auf und klettert unermüdlich von Kloster zu Kloster. Es ist verwunderlich, daß die Leuchtkraft der Farben auch in den aufgeborstenen Höhlen erhalten blieb und daß die Fresken in den Kriegsstürmen der Jahrhunderte nur wenig beschädigt wurden.

Die übrigen Orte des fast 70 Kilometer langen Tales, wie Ürgüp, Ortą Hisar, Ūę Hisar, Cavusin und Maęan sind bewohnt. Die weißen Häuser in hethitischer Bauweise drängen sich eng an den Fels, um jeden Fußbreit fruchtbaren Bodens zu sparen. Auf den flachen Dächern trocknen kleine, goldfarbene Marillen. Wie einst die Mönche des heiligen Basilius pflegen fleißige ana- tolische Bauern ihre Weinstöcke. Muntere Kindergesichter lugen aus den Öffnungen der bis zu 60 Meter hohen Klosterburgen. Verschleierte Frauen füllen an uralten Brunnen ihre schön geformten Krüge mit kühlem, köstlichem Wasser — dem kostbarsten Geschenk der Berge. Die Zeit scheint in diesem weltvergessenen Tal stillezustehen.

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