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Tendenz und Menschlichkeit

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Seit vor nunmehr achtzig Jahren die französische Dichtergruppe der „Parnassiens“ den Schlachtruf „L'art pour l'arc“ erhoben hat, ist die am sich schiefe Fragestellung nach dem Vorrang der tendenziösen oder tendenzlosen Kunst immer wieder in endlosen Diskussionen erörtert worden. Die gerade in den letzten Jahrzehnten von den verschiedensten Bewegungen in allen Ländern an die Künstler herangetragenen Forderung, ihre Kunst in den Dienst eines Parteiprogramms zu stellen, sich ideologisch „auszurichten“, „einzuordnen“ oder zu „engagieren“, hat bei den ernsten Künstlern wie beim Publikum eine begreifliche Reaktion gegen jegliche Art von „Tendenz“ hervorgerufen. An dieser Einstellung können auch die wieder von den verschiedensten Gruppen in allen Ländern und Sprachen mit seltsamer Einmütigkeit erhobenen Vorwürfe von der Absonderung der Künstler im „elfenbeinernen Turm“, von der „Flucht in die Idylle“, vom „Escapism“ oder „Assentismo“ nichts ändern. Wie so oft liegt auch hier die Wahrheit wohl weder bei dem einen noch bei dem anderen Extrem. Denn so gewiß das große Kunstwerk aus dem inneren, aber eben geläuterten Erleben der Zeit erwächst, so sicher ist eine primitive Unterordnung unter die Zeittendenzen und Tagesströmungen der Tod jeder e c.h-ten Kunst. Mit Recht hat der in Amerika lebende französische Schriftsteller Jacques Barzun einmal auf die seltsame Tatsache hingewiesen, daß wir etwa, wenn wir den Geist der Französischen Revolution in einem Kunstwerk erleben wollen, entweder zu den schon vor der Retvolution geschriebenen Komödien von Beaumarchais oder zu Büchners im Deutschland der Restaurationsepoche entstandenen Drama „Dantons Tod“ greifen, während von der riesigen Tagesproduktion aus der Revolutionszeit selbst, die in trostloser Eintönigkeit die Themen von Bürgertugend, Freiheitskampf und Tyrannenmord abwandelte, sich Air das Textbuch des „Fidelie“, aber auch dieses ja nicht dank »einer dichterischen Qualität am Leben erhalten hat. Ähnliches aber kann wohl jetzt schon von den meisten Künstlerzeugnissen gesagt werden, die ihre Entstehung der einseitigen Parteinahme in den ideologischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte verdanken. Das gilt besonders für das immer wieder geforderte „zeitnahe Theater“. Auch wenn die Autoren aas dem Empfinden von der künstlerischen Notwendigkeit der Distanz die Gegenwartsprobleme in ein zeitfernes oder zeitloses Gewand hüllen, stört doch die Deutlichkeit der Tendenz, die aus den Gestalten flache Schablonen und nicht lebendige, Anteilnahme erregende Menschen macht. Das gitt selbst dort, wo die Zeittendenz insofern bloß negativ ist, als sie ideologischem Vorurteil und Zwang die überzeitliche Idee der Menschlichkeit gegenüberstellen will.

Die Komödie „Das Kuckucksei“, die, von dem Ehepaar Walter und Irma Firner in der amerikanischen Emigration ursprünglidi englisch geschrieben, im Votks-theater ihre deutschsprachige Uraufführung erlebte, geht von der amerikanischen Adoptionspraxis aus und zeigt die Verwicklungen, die entstehen, wenn ein in „gutem Hause“ aufgewachsenes junges Mädchen plötzlich entdeckt, daß ihre wirkliche Mutter eine verwahrloste Säuferin und Taschendiebin ist. Entsprechend der m Amerika herrschenden Milieutheorie — als deren ständig erneuerte Bestätigung die Assimi-lierong der Einwanderer und ihre Verschmelzung zu einer amerikanischen Nation empfunden wird — beginnt das Stück zunächst als ein Angriff gegen die Vererbungslehre. Doch mit dem Vertreter einer engstirnigen „Eugenik“ verschwindet auch , das pjanze „Problem“ nach dem ersten Akt, nicht eum Nachteil des Stückes, von der Bühne und übrigbleibt die Geschichte, wie die gut veranlagte, doch unter dem Zwang des Milieus verkommene Frau noch im Alter von ihrer Tochter zu einem „nützlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft“ umerzogen wird. An die Stelle der Polemik tritt die Anteilnahme am menschlichen Schicksal und die Komödie entwickelt sich zu einem modernen „Besserungsstück“, zugeschnitten auf das so erziehungs- und bekehrungsfreudige amerikanische Publikum. Hübsche Einfälle und ein allerdings manchmal bis hart an die Grenze des guten Geschmacks heranführender, bühnensicherer Humor geben der Hauptdarstellerin Frau Anni Rosar die Gelegenheit zur Enfaltung aller Talente in einer hervorragenden schauspielerischen Leistung.

So zeigt diese« von europäischen Eltern ins amerikanische Nest gelegte „Kuckucksei“, daß die Autoren wohl vom Milieu der Neuen Welt beeinflußt wurden — erfreulicherweise ohne die, wenn schon nicht ererbte, so doch gewiß aus der europäischen Tradition übernommene Fähigkeit zum Bau eines straff geführten Lustspiels verloren zu haben.

Die „Insel“ bringt „Ich war Soldat“ von Franz Tassi£, das im Frühjahr 1945 geschriebene Schauspiel eines jungen österreichischen Autors, der jetzt bereits resigniert in einer Vorrede auf dem Programm für den an sich schon recht zaghaften Idealismus seiner damaligen Schöpfung um Entschuldigung bittet. Die etwas unwahrscheinlich konstruierte Geschichte von dem Flieger-leutnant aus Wien, der, in den ersten Kriegstagen nach dem Bombardement von Warschau abgeschossen, im Versteck einer verlassenen Flußinsel ausgerechnet das polnische Mädchen trifft, das als Studentin in Wien seine Geliebte gewesen und das ihm inzwischen einen Sohn geboren hat, will die Auflehnung von Menschlichkeit und Gewissen gegen den Zwang der menschenmordenden Kriegsmaschine darstellen. Trotz redlichen Bemühens von Darstellung und Regie bleibt jedoch der vorherrschende Eindruck der einer flügellahmen Müdigkeit und Unentschlossenheit, eines sich hinschleppenden Zauderns, unterbrochen von einer kurzen nervösen Auflehnung, die doch gleich wieder kraftlos in sich zusammensinkt. Als Ausdruck einer Zeitstimmung mag das Stück einen gewissen dokumentarischen Wert besitzen.

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