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THEATER IN BUDAPEST

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Teden Abend spielen in Budapest fünfzehn Theater, darunter zwei Opernhäuser für insgesamt viertausend Personen, und ein Operettentheater. Alle neun Vorstellungen, die ich sah, waren so gut wie ausverkauft. Die Karten sind billig, und so vergißt man eben gern für ein paar Stunden den keineswegs erfreulichen Alltag, dies um so leichter, als die Aufführungen, soweit wir selbst feststellen konnten, zum guten Teil ein sehr eindrucksvolles Niveau zeigten. Der Spielplan der beiden Opernhäuser enthält viel italienisches Repertoire, aber auch Wagner — „Holländer“, „Tristan“, „Walküre“ — und zeitgenössische Werke, außer Bartök und Kodäly etwa Benjamin Britten. Wir sahen „Walküre“ in einer absolut historisch anmutenden Inszenierung, von der wir später erfuhren, daß sie schon seit achtzehn Jahren unverändert läuft. So sah sie auch aus. Es gab Bärenfelle Rüstungen, Flügelhelme und — ausgerechnet hier — viel urgermanisches Pathos. Vortrefflich aber der Heldentenor Jözsef Joviszky. Verdis „Don Carlos" ist auch in einer alten, jedoch sehr stilvollen Inszenierung zu sehen, deren Freude an Farben und Dekor stark an die Bräuche der Wiener Oper denken ließen. Die ganze Aufführung hatte auch bis in kleine Rollen Format. — Absolut modern, phantasievoll, unrealistisch wurde Brittens „Albert Herring“ gezeigt. Die Bühnenbilder nur Andeutungen, es gab ständiges und reizvolles Spiel zwischen Realität und deren Auflösung, Witz, Charme, Leichtigkeit und schönste Ensembleleistung. Ausgezeichnet das Orchester unter dem jungen Dirigenten Tamas Blum.

Im Schauspiel war die Premiere von Arthur Millers „Blick von der Brücke“ im Madäch-Theater der stärkste Eindruck. Der Regisseur Adam Otto stellte die drei Schauplätze unter Aufhebung des realistischen Gefüges völlig ineinander, quer darüber sah man die Kontur der mächtigen Brücke, die so verblüffend der Budapester Kettenbrücke glich. Sändor Becsi und Zoltän Basilides spielten mit Konzentration, Härte und Wesentlichkeit, die auch in der gesamten Regie erkennbar war und etwa die Wiener und Frankfurter Inszenierung, mit der wir vergleichen können, an radikaler Modernität übertraf. Davon abgesehen: Denunziation im Schatten der hier so vertrauten Brücke, Totschlag, Festnahme — man sitzt nicht ohne Schaudern im Parkett. — Brechts „Dreigroschenoper“ im Petöfi-Theater ge-

lang weit weniger gut, da sah man viel zuviel Molnär, ausartende Spielfreude, Clownerien, Dreigroschenoperette, aber trotz dieser Verharmlosung hat man den Eindruck, daß däs Werk hier wieder sehr aktuelle Kraft entfaltet, freili 3i .mclit gegen die kapitalistische Welt. Sehr elegant gespielt, im natürlichsten Konversationston, war die Komödie der jungen ungarischen Autorin Klara Feher „Ein Mann zu wenig", vor allem Imre Räday hätte dem Wiener „Theater in der Josefstadt" entsprungen sein können. Recht aufschlußreich dabei die Streiflichter auf die privaten Wunschvorstellungen und die freilich recht harmlosen 93tirischen Pointen auf den volksdemokratischen Alltag: der flotte Bonvivanttyp siegt auch über das beruflich belastete Dasein — hinter allen volksdemokratischen Lebensformen kommen die guten, alten Themen und Situationen unter tosendem Applaus wieder zum Vorschein

Alfred Neumanns und Erwin Piscators Bühneneinrichtung von Tolstois „Krieg und Frieden“ beginnt im „Vigszinhäz“ auf einem vorhanglosen Freipodium. Es gibt interessante Kontraste: reiche Spitzenkostüme und kahle Bühne, Kinoprojektionen und dekoratives Hantieren mit Theaterrequisiten. Scharfe Lichtregie mit Scheinwerferkegeln und gehobene musikalische Geste. Wunderbar, wie man in Budapest die Aristokraten spielen kann, das gelingt so identisch nicbt einmal mehr in Wien. Die Erinnerung an die Feudalepoche ist noch lebhafter und vor allem auf der Kunstebene intellektuell längst nicht so aufgelöst wie im Westen. Die überzeugendsten Fürsten, Herzöge, Könige auf der Bühne sieht man heute in Warschau und Budapest. Gyula Benkö, György Gyöffry, Antal Pager in „Krieg und Frieden“, und den großartigen Lajos Bästi als Theseus in „Sommernachtstraum" im „Nemezeti-Theater". Bästi bewegt sich mit einer königlichen Selbstverständlichkeit, einem taktvollen Charme und dem noblen Ton einer spielerischen Phantasie, der an frühere Zeiten des Burgtheaters im besten Sinn denken läßt. Die Inszenierung war konventionell, aber im Schlußbiid sehr gelungen, die Schauspieler bis auf den Zettl als Schweijk-Typ recht schwach.—Ein Werk der Weltliteratur ist Imre Madächs „Die Tragödie des Menschen“, zu Unrecht seit langem von westlichen Theatern übersehen. Die Aufführung im „Nemezeti-Theater" geschah ohne jedes Beiwerk, auf einer ausgebauten Mysterienbühne. In der Hochblüte der Stalin-Ära war das Stück für die Bühne verboten. Jetzt hat es großen Erfolg, obwohl die Darstellung nicht ganz zureicht. Bästi ist als Adam eine Fehlbesetzung. Aber das große Welttheater kann man als bühnenwirksame Dichtung, die so überaus modern anmutet, kaum mehr vergessen.

Ein Blick auf den weiteren Spielplan und ein Gespräch mit dem Direktor des Madäch-Theaters, Bela Both, orientieren zusätzlich über die Theatersituation. Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ war in Budapest ein Riesenerfolg. Man gab Wilders „Wir sind noch einmal davongekommen“, Anouilhs „Eurydike“ und „Romeo und Jeanette“, Giraudoux’ „Der trojanische Krieg findet nicht statt“, Millers „Der Tod eines Handlungsreisenden". Von Max Frisch läuft eben „Biedermann und die Brandstifter", Tennessee Williams war schon früher mit der „Glasmenagerie“ zu sehen. „Jonesco, Audiberti, Schehade und auch Christopher Fry haben wir noch nicht gebracht. Sie hörten, daß die Proben von Dürrenmatts ,Romulus der Große’ abgebrochen wurden? Das war auf meinem Theater. Aber nur aus spielplantechnischen Gründen.“ Nun ja. Ich erkläre meinen positiven Eindruck von Millers „Blick von der Brücke". Bela Both: „Wir haben da auch im Darstellungsstil etwas hier Neues versucht, weg von allen überflüssigen Gesten. Das war gar nicht so einfach.“ Wieviel ein Spitzenschauspieler in Budapest an Honorar erhalte? Sechstausend Forint pro Monat, zum offiziellen Kurs also etwa sechstausend Schilling. Dazu käme wohl noch Film, Funk und Fernsehen. Gastspiele? Höchst selten, das Engagement gehe immer über zwölf Monate. — Der Direktor der Budapester Oper, Kalman Nädasdy, der früher auch an der Wiener Staatsoper inszenierte, ist über das westliche Musik- und Theaterieben vollkommen im Bild. „Ich bin ziemlich oft in Wien und München, natürlich war ich auch bei der Eröffnung des Salzburger Festspielhauses.“ Nädasdy hat in seinen beiden Häusern ein stehendes Repertoire von 60 Werken, leider sind noch eine Menge alter Inszenierungen darunter. Aber was seit 1956 gemacht w’urde, sieht schon ganz anders aus. Er zeigt uns das großlinige Bühnenbild einer „Salome" in seiner eigenen Inszenierung. „Vierzig volle Häuser!“ Ob im Publikumsbesuch Mißerfolge und Erfolge überhaupt bemerkbar wären? „Und wie! Bei mir ist keineswegs alles durch Organisationen ausabonniert. Übrigens ging auch Brittens ,Peter Grimes’ bei uns ausgezeichnet. .Wozzeek’? Den wollen wir demnächst bringen.“ Ich fragte nach „Fidelio". — „Natürlich, den spielen wir.“ — „Ungestrichen?“ Ich meinte vor allem den Chor der Gefangenen. Kurzer Blick, dann: „Ja, ungestrichen.“ Diese Worte kann ich nur zitieren, ich sah leider keinen „Fidelio“ angesetzt. Und konnte ihn daher auch nicht hören. „Gastspiele? Doch, mein Heldentenor Simändy singt öfter in München, Lilian Birkäs gastierte in Rom als Salome, mein Baß Szekely in Paris, auch der Generalmusikdirektor Jänos Ferencsik ist immer wieder im Ausland, wie eben jetzt.“ Von anderer Seite allerdings erfuhr ich, daß es mit der Ausreiseerlaubnis auch für Künstler keineswegs leicht sei und man oft im letzten Moment noch Schwierigkeiten bereite.

Auf solche Weise läßt sich natürlich eine Binnenwelt mit tief unter dem internationalen Preis liegenden Honoraren und der Möglichkeit geschlossener, kaum flukturierender Ensembles ohne weiteres aufrechterhalten. Gastspiele aus dem Westen sind ebenfalls äußerst selten, obwohl sie dann meist vom Publikum besonders stürmisch und dankbar begrüßt werden, wie etwa Tito Schipa bei einem Liederabend oder die „Virtuosi di Roma" bei zwei Konzerten. Man hätte, so sagt man, gern viel mehr Gäste, doch verlangen alle Devisen. Übrigens ist die Konzertsaison, wie aus den Plakaten zu ersehen ist, ziemlich reichhaltig, freilich vor allem mit längst anerkannten Werken bis Bartök und Kodäly.

Ein Gespräch mit dem 78jährigen Zöltan Kodäly läßt uns in ein immer noch schöpferisches Leben blicken: Eben hat Kodäly eine Motette auf den Tod eines Schülers beendet, die in London uraufgeführt wird. Er selbst war im Frühjahr längere Zeit in England und will nächstes Jahr wieder dorthin. „Hier ist - mgüje Hauptaufgabe die Sammlung ungarischer Volksmusik, „die in mehreren Bänden herauskommt, und die Betreuung meiner Schulen — das sind normale Schulen, in denen aber jeden Tag eine ganze Stunde vom Blatt gesungen wird. Merkwürdigerweise ist hier auch der Lernerfolg in den übrigen Gegenständen besser als woanders, das rettet das Bestehen dieser rund hundert Schulen vor .anderen pädagogischen Absichten’." Man verabschiedet sich von dem alten Herrn mit dem langen, weißen Haar in der Fin-de-siecle-Wohnung voll alter Bilder und Erinnerungsstücke und tritt durch die Tür in eine völlig andere Welt.

Faßt man den gewonnenen kurzen Überblick zusammen, so muß man sagen, daß eine ganze Reihe westlicher Werke in Budapest über die Bühne gingen und man sich auch weiter zu neuen westlichen Kontakten ziemlich hartnäckig hinter den Kulissen durchzudiskutieren scheint. Die Inszenierungen der letzten Jahre sind mit den streng konservativen und realistischen der Stalin-Periode nicht zu vergleichen. Man ist in Budapest, und dieser Eindruck fand immer wieder neue Beweise, gerade dabei, wenn auch nicht ohne interne Vorsicht, so doch energisch aufzuholen.

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